Auf fremdem Land - Roman
hab gedacht, ich bin diejenige, die Essattacken haben sollte«, bemerkte Neta.
»Ich bin noch vom Fasten gestern Abend erledigt«, redete sich Jean-Marc heraus.
Die Synagoge war voll und festlich. Chilik amtierte als Vorbeter. Er sprach den Dankessegen des Achtzehngebets und fuhr fort mit »In den Tagen von Mordechai und Ester«, ging dann zur Thoralesung über, dem Abschnitt aus Exodus »Da kam Amalek«, sprach den Segen »Der du uns geheiligt durch deine Gebote und uns befohlen, die Megilla zu lesen … der du Wunder erwiesen … der du uns hast Leben und Erhaltung gegeben …«, und dann wurde die Megilla, die Esterrolle, vorgelesen, die Rasseln klapperten in den Köpfen der Betenden, schlugen den Amalek-Nachkommen Haman und seine zehn Söhne, die Lippen murmelten vereint, die konzentriert dichtgedrängten Leiber ließen die frostige Luft tauen, die von draußen hereinkroch, und danach folgte »Der du unseren Streit führst« und am Schluss »Jakobs Rose jauchzte und freute sich …«
Otniel flüsterte mit Chilik unter vier Augen am Ausgang der Synagoge. In den letzten Tagen herrschte vollkommene Stille aus Richtung der Armee. Otniel war, seiner Natur gemäß, darüber beunruhigt und Chilik seiner Art nach ermutigt. »Sie wagen es nicht, an Purim etwas zu machen, und noch dazu, ohne es anzukündigen«, meinte Chilik.
»Schau dir das Datum an, das hier eingetragen ist«, versetzte Otniel und deutete auf den Zerstörungsbefehl, der an der Synagogenwand hing. Der 14. Adar war dort als endgültiger und unwiderruflich letzter Termin für die Bewohner verzeichnet, ihre Häuser zu räumen. »Das ist heute. Diese Stille von ihrer Seite, ich weiß nicht. Ich hab versucht, Giora gestern anzurufen, um ihm ein frohes Fest zu wünschen, mich ein bisschen umzuhören. Er hat mich noch nicht zurückgerufen. Das passt nicht zu ihm.«
»Sie werden es nicht wagen«, stellte Chilik entschlossen fest. »Sie haben nicht darauf geachtet, dass das an Purim ist, weil sie dumm sind, das ist nicht das erste Mal. Und falls sie es wagen, Purim ist ein Tag der Wunder, der Aufhebung von Urteilen.«
»Es gefällt mir nicht.« Otniel Asis nestelte mit der Linken an seinem Bart und legte seine Rechte liebevoll auf den Nacken des Knaben, der ein Schalom-Achschav-Hemd und eine Glatzkopfperücke aus Gummi trug, ein rundes Brillengestell und einen Ohrclip von seiner Mutter, und an einer Friedenspfeife nuckelte, die in seinem Mundwinkel hing. Sein Sohn Jakir, als Linker verkleidet. Er hielt eine Speisekarte in der Hand, die ihm Moran aus einem Tel Aviver Café mitgebracht hatte. Unter den Gerichten waren auch völlig unkoschere Shrimps und Meeresfrüchte. Kinder und Erwachsene wollten es sehen, blätterten in der Speisekarte mit belustigter, bestürzter Gier. »Sie haben es gewagt, Gabis Zimmer zu zerstören«, erinnerte Otniel, »auch damals hast du gesagt, sie würden es nicht wagen, oder nicht?« Seiner Meinung nach war es unmöglich, sich auf den Status quo oder auf die Logik zu verlassen, denn die waren bereits aufgehoben.
»Das war eine andere Geschichte. Naturschutzgebiet. Die Landschaftsbehörde. Außerdem, was denn, würden sie Strom legen vor einer Räumung?«, wandte Chilik ein.
Otniel war nicht überzeugt: »Ich sag dir, die brüten was aus.« Er kannte die Behörden und Instanzen seit zu vielen Jahren, um nicht zu wissen, dass man sich auf nichts verlassen durfte, dass man sich von ihnen nie einlullen lassen oder nie ein Auge zutun durfte.
Eine Idee keimte in seinem Gehirn auf. Er erinnerte sich an einen außergewöhnlichen Vorfall, der sich in Samaria einige Jahre zuvor ereignet hatte. Er sah Roni aus dem Augenwinkel, mit Lockenperücke und runder Plastikbrille, und trat zu ihm. Ohne weitere Einleitung trug er ihm die Idee vor. Roni kicherte, als hätte er eine amüsante Purimgeschichte gehört, und trank aus seiner Bierflasche. Otniel sagte, es sei ihm ernst. Roni nahm noch einen Schluck und dachte nach. Otniels Idee klang abgefahren, doch das konnte die Gelegenheit sein. Es war sein letzter Tag, und er wollte sich von allen im Guten verabschieden, also warum nicht auch von Mussa Ibrahim? Immerhin hatten sie ein paar Monate gemeinsamer Arbeit, gemeinsamer Hoffnungen hinter sich gebracht, eine Art Freundschaft, könnte man sagen. Stimmt, er war von dem hässlichen Ende seines Geschäftsprojekts enttäuscht gewesen und hatte sich verraten gefühlt, aber jalla , es war Purim. »Aber allein geh ich nicht«, sagte er zu
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