Auf in den Urwald (German Edition)
auf sie warten. »Doch, ich warte, da wo gestern«, hatte Edek gesagt und Mirja hatte ihm darauf mit ganz weicher Stimme geantwortet: »Gestern war sehr schön!«
Edek nahm aus der Kasse 50 Euro, versteckte die Kasse dann an der üblichen Stelle im Schlafabteil, schloss den Wohnwagen ab und ging zum Mannschaftswagen. Nach der gestrigen Nacht kam es ihm vor, als schwebe er auf Wolken. Den ganzen Tag über hatte er Mirjas Wärme und ihre Haut gespürt, es war ihm, als liege sie immer noch ganz nah bei ihm und als träume er nur von all der Hektik auf der Geisterbahn. Jetzt, wo auf der Kirmes die lärmende Musik verstummt war und die Lichter nach und nach erloschen, erfasste ihn dieses Gefühl erneut und ganz heftig, und er empfand die Regentropfen, die plötzlich auf sein Gesicht fielen, wie kleine, erregende Stiche, die ihm beinahe Zauberkräfte verliehen.
Edek sprang die beiden Stufen zum Mannschaftswagen auf einmal hoch und riss mit Schwung die Tür auf.
»Los, Wilfried! Wir gehen heute essen wie Könige in Märchen!« Er streckte Wilfried den Geldschein entgegen. »Eine Pizza für Wilfried, eine für Edek, dazu Fass Bier und Fass Wein! Und dann ganze Nacht ...«
Edek verstummte. Wilfried hörte ihm gar nicht zu. Er saß auf dem Bett und hielt das Tagebuch auf den Knien. Seine Stirn war gekräuselt und sein Blick ging irgendwo durch die Wohnwagenwände in die Ferne.
»Was ist, Wilfried? Willst du heute Tagebuch essen? Schmeckt garantiert nicht gut! Nur Papier und Blech!«
Wilfried kam langsam zu sich und schaute Edek an, als käme er von einem anderen Stern.
»Pizza essen!«, wiederholte Edek und wedelte Wilfried mit dem Geldschein vor der Nase.
»Ich suche einen Reim für ›Urwald‹«, sagte Wilfried ernst.
»Ein was?«
»Einen Reim. Zum Beispiel ›Urwald – alt‹, aber ›alt‹ passt nicht.«
»Schreib einfach ›kalt‹«, schlug Edek vor.
»Nein. ›Kalt‹ passt auch nicht. Außerdem ist es im Urwald immer warm.«
»Egal, dann ›knallt‹ oder ›malt‹ ... Wilfried, jetzt komm Pizza essen. Du kannst morgen noch schreiben über dein blödes Urwald!«
»Nein. Jetzt. ›Urwald ... Urwald ... Urwald ...‹« Wilfried steckte den Kugelschreiber in den Mund.
»›Bald‹«, fiel Edek nach einigem Nachdenken ein.
Wilfrieds Miene erhellte sich. »›Bald‹ ist gut! Das ist sehr gut!« Er nahm den Kugelschreiber aus dem Mund und schrieb etwas in das Tagebuch. Edek schaute ihm über die Schulter. Die erste Zeile konnte er lesen, aber die zweite nicht, alle Buchstaben waren verkehrt herum.
»Äh, Wilfried, warum schreibst du so komisch?«, fragte Edek. »Ist nicht normal, kann niemand lesen ...«
»Wilfried kann es lesen, Wilfried schreibt immer so«, sagte Wilfried.
»Und warum?«
»Weil es so viel schöner aussieht!«
Edek rollte die Augen. »Und? Was hast du geschrieben?«, wollte er wissen.
»›Sonntag‹«, las Wilfried ohne zu stocken. »›In zwei Wochen, o wie bald, gibt’s Geld für Flug zum Urewald!‹«
»Für was?«
»Urewald. So kling es besser.«
»Du mit deine Urewald!«, regte sich Edek auf. »Du bist in Kopf krank, Wilfried!«
Wilfried fasste sich besorgt an die Stirn.
»Ich habe aber kein Fieber«, stellte er fest. »Und ich will zu Onkel Ludwig!«
»Ist okay! Kein Fieber, Kopf ganz gesund und in zwei Wochen bist du in Urwald bei deine Onkel Ludwig«, gab Edek nach. Er hatte jetzt überhaupt keine Lust, sich mit irgendwelchen verrückten Diskussionen die gute Laune zu verderben. Außerdem machte die Pizzeria, die er vorgestern ein paar Querstraßen von der Kirmes entfernt entdeckt hatte, womöglich noch zu, wenn sie nicht bald gingen.
»Jetzt komm endlich!« Edek steckte den Geldschein in die Hosentasche und verließ den Wohnwagen.
Der Regen war heftiger geworden, schon bildeten sich aus dem von den schweren Wagen zerfahrenen Gelände der Kirmes die ersten Pfützen. Edek stellte den Kragen der Lederjacke hoch und ging schnell los. Wilfried stakste hinterher, wie üblich seltsam seine Schritte abbremsend, um Edek nicht umzurennen.
Immer heftiger prasselten die Regentropfen vom Himmel. Der Regen war frühlingshaft warm. An einem Sonntagnachmittag, auf einer grünen Blumenwiese in der Nähe eines blauen Sees, da würde Edek eines Tages Hand in Hand mit Mirja im Regen spazieren gehen. Sie würden bis auf die Haut nass werden und dann würde es egal sein: Nackt würden sie in den kristallklaren See springen und weit hinausschwimmen, bis zu der einsamen,
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