Auf in den Urwald (German Edition)
wieder ein Dreieck, ein Viereck und einen Kreis.
»Welche Figur kommt als Nächstes?«, fragte der Mann. »Nehmen Sie meinen Kugelschreiber und zeichnen Sie die Figur einfach ein!«
Wilfried nahm den Kugelschreiber und malte eine lange, schöne Wellenlinie.
»Könnte es nicht sein«, überlegte der Mann laut, »dass als nächste Figur wieder das Dreieck kommt?«
»Ja«, sagte Wilfried, »das Dreieck kommt bestimmt wieder, aber vorher kommt eine Welle. Die Welle fehlt.«
»Und warum? Das müssen Sie mir schon noch näher erklären.«
»Weil: der Strich hier ist gerade und der Strich ist gerade und der und der und der« – Wilfried tippte mit seinem riesigen Finger auf die Linien des Dreiecks und des Vierecks – »aber der Strich ist rund. Eine Welle ist gerade und rund.« Wilfried schnaufte. Das war ganz schön schwierig gewesen, aber er hatte es geschafft!
Der Mann schaute ihn an, überlegte und machte sich dann eine Notiz.
»Kommen wir jetzt zu etwas ganz anderem ... Einen Augenblick ...« Er blätterte in seiner Mappe. »Ich nenne Ihnen ein paar Zahlen. Sie sagen mir, wie es weitergeht!«
Wilfried stutzte. Mit Zahlen hatte er seine Probleme. Das würde bestimmt ganz schwierig werden.
»5 - 9 - 13 - 17 ... und weiter???«, las der Mann.
Wilfried blickte ihm geradeaus in die Augen. In der Brille spiegelte sich die ganze Zahlenreihe. Wilfried atmete auf. Das war natürlich ganz einfach. Spiegelverkehrt konnte Wilfried lesen wie in seinem Tagebuch.
»21 - 25 - 29!«, las Wilfried.
»So???«, sagte der Mann erstaunt. »Und weiter: 25 - 4 - 8 - 16 ...?«
»32 - 64 - 128 - 256.«
»Interessant«, wunderte sich der Mann. »Und weiter: 2 - 3 - 5 - 7 - 11 - 13 ...«
»17 - 19 - 23 - 29 - 31 - 37 - 41 - 43.«
»Ausgezeichnet!« Der Mann klappte die Mappe zu und nahm seine Brille ab. »Es hat mich gefreut, mich mit Ihnen zu unterhalten, Herr Jagenberg. Leider ist meine Zeit um. Ich muss mich jetzt verabschieden!«
Wilfried lächelte und stand auf.
Der Mann auch. Er reichte Wilfried die Hand. Wilfried ergriff sie und drückte sie vorsichtig.
»Es war wirklich interessant, sehr interessant«, sagte der Mann.
»Danke«, sagte Wilfried und strahlte.
»Ich wünsche Ihnen alles Gute. Ich glaube, Sie können hier bald weg.«
Und wirklich. Heute früh hatte der Kommissar Wilfried abgeholt und ihm gesagt, man habe keine weiteren Fragen mehr an ihn, er könne gehen. Der psychologische Gutachter habe geschrieben – der Kommissar las von einem Blatt ab –, Wilfrieds Intelligenz sei auf bestimmten Gebieten nicht so hoch, auf anderen dagegen, zum Beispiel auf dem der Mathematik, überdurchschnittlich. Außerdem verfüge er über ein besonderes Verständnis von Logik. In besonderen Fällen der Gehirnschädigung, die bei der Geburt aufgrund Sauerstoffmangels auftreten können, käme es durchaus zu solch außergewöhnlichen Erscheinungen. Jedenfalls könne er, Wilfried, mit dem Grad von geistiger Behinderung, die er ersichtlich für jeden habe, durchaus selbstständig leben. Im Übrigen sei der Wunsch, einen toten Verwandten zu beerdigen, etwas ganz Normales und könne nicht Gegenstand eines Gutachtens sein.
»So, dann wünsche ich Ihnen alles Gute«, sagte der Kommissar, nachdem er das Blatt in eine Mappe gelegt hatte.
»Danke«, sagte Wilfried, dem besonders der letzte Satz sehr gut gefallen hatte. »Dann kann Wilfried jetzt Onkel Ludwig beerdigen!«
Der Kommissar wurde ein wenig verlegen. »Ja, mit Ihrem Onkel, das ist so eine Sache«, meinte er. »Der ist schon beerdigt ...«
»Schon beerdigt?« Wilfried ließ die Schultern hängen. »Wilfried wollte Onkel Ludwig schön beerdigen ...«
»Ich kann Sie verstehen. Aber es war eine Anordnung der Staatsanwaltschaft. Die Lei..., das heißt, ich meine, Ihr Onkel Ludwig musste innerhalb von 48 Stunden beerdigt werden.«
Wilfrieds Kinn begann zu zittern.
Der Kommissar schaute sich unsicher um. »Er ist ... er hat einen schönen Sarg bekommen«, sagte er nach einer Weile. »Sie ... Sie haben mir ja viel davon erzählt, ich weiß. Einen schönen glänzenden Sarg.«
»Und Blumen?«, fragte Wilfried mit belegter Stimme.
»Blumen? Blumen auch, klar ... Genau, wie Sie es sich gewünscht haben. Jede Menge Blumen ...«
»Danke«, sagte Wilfried und fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase. »Vielen Dank, dass Sie daran gedacht haben.«
»Na ja, sicher ... Ihr Onkel Ludwig muss jedenfalls ein netter Mensch gewesen sein. Schade, dass ... Aber es ist ja
Weitere Kostenlose Bücher