Auf in den Urwald (German Edition)
egal: Ein toter Mann ist auch ein Mann, nicht wahr?«, fiel dem Kommissar erleichtert ein.
Wilfried nickte. Das hörte er gerne. Das hatte er dem Kommissar immer wieder erklären müssen und nun hatte er es verstanden.
Dann kam ein Polizist und meldete, der Wagen sei bereit, er könne Wilfried nach Hause fahren.
Und nun saß er hier. Und schrieb noch für seine Erinnerungen auf: »Dienstag, immer noch der gleiche. Der Kommissar ist ein lieber Mensch.« Die zweite, spiegelverkehrte Hälfte fehlte, weil sich – das wusste Wilfried schon lange – auf »Mensch« nichts reimen wollte.
Wilfried klappte das Tagebuch zu und steckte es in die Jackentasche.
Er schaute sich um. Nein, hierbleiben wollte er auf keinen Fall. Hier fühlte er sich nicht wohl. Das war nicht mehr sein Zuhause. Er musste weg. Er würde gleich das machen, was er schon immer machen wollte. In den Urwald gehen! Nein. Erst zu Onkel Ludwigs Grab, um nach den Blumen zu schauen. Dann zu Edek und Mirja, um Danke zu sagen. Und dann endlich in den Urwald.
Wilfried erhob sich. Er brauchte einen Koffer. Auf dem Tisch lag immer noch der offene Koffer mit Vaters Sachen, aber der war zu klein. Wilfried brauchte einen großen Koffer, noch besser: eine große Tasche. Die konnte er unterwegs sehr gut als Kopfkissen benutzen.
Wilfried überlegte. Als er hier noch mit Mutter und Vater gelebt hatte, standen Koffer und Taschen unten im Keller.
Wilfried ging in den Keller. Eine Tasche war nirgendwo zu sehen. Nur das Regal, auf dem sich immer noch in beschrifteten Schachteln alle möglichen Pflanzenproben befanden, stand ein wenig schief im Raum. Das sah unordentlich aus. Seinem Vater hätte es nicht gefallen. Kurz entschlossen packte Wilfried das Regal und schob es an die Wand. Es ging nicht. Etwas störte. Wilfried sah hinter das Regal und sein Herz schlug auf. Dort lag Onkel Ludwigs große Urwaldtasche! Die Tasche, die er immer bei sich hatte! Auf irgendeine wundervolle Weise war sie zu Wilfried gekommen. Genau wie vor einiger Zeit Onkel Ludwig selbst!
Außer sich vor Freude trug Wilfried die Tasche ins Wohnzimmer und stellte sie auf den Tisch. Er holte aus der Küche eine Flasche Mineralwasser und aus dem Schlafzimmer eine Decke. Das sollte genügen.
Wilfried öffnete die Tasche und seine Stirn legte sich in Falten. Sie war nicht leer. Sie war voller Geld. Onkel Ludwigs Geld!
Wilfried schaute nach. Es war viel Geld. Er versuchte, es zu zählen, kam aber gleich damit durcheinander, weil es so schwierig war, alles zusammenzurechnen. Wilfried gluckste freudig. Wenn er es schon nicht schaffte, das Geld zu zählen, dann musste es ganz schön viel sein. Hatte nicht Edek einmal gesagt, mit 900 Euro könne man nach Rio de Janeiro fliegen? Wilfried gluckste noch einmal. Vor ihm auf dem Tisch lagen viel mehr als 900 Euro! Wahrhaftig, es war ein ganzer Haufen, den er von seinem Onkel Ludwig bekommen hatte! Wilfried raffte ihn zusammen und stopfte ihn in die Tasche. Dann die Decke und die Flasche und dazu noch den Schal, die Zahnbürste und den Rasierapparat, den man letzte Woche für ihn aus dem Wohnwagen geholt hatte. Und damit waren alle Vorbereitungen abgeschlossen. Einer Reise in den Urwald stand nun nichts mehr entgegen!
Wilfried verließ das Haus und stakste munter los. Die Sonne schien warm und die Vögel zwitscherten. Bald hatte er den Friedhof erreicht. Er blieb stehen und ließ ein Auto vorbei, das vom Friedhof kam. Ein Polizeiauto. Er schaute ihm verwundert nach, dann betrat er den Friedhof. Der Kies der Friedhofsallee knirschte unter seinen Füßen. An ihrem Ende bog Wilfried links ab und blieb überrascht stehen.
Neben dem Grab seiner Eltern befand sich ein neues Grab. Es war über und über mit wunderschönen Blumen bedeckt.
Wilfried stellte die Tasche ab und hob eine der Blumen, eine Levkoje, auf. Die Matthiola duftete noch ganz frisch. Wirklich wunderbar! Wilfried legte die Levkoje vorsichtig zurück und betrachtete eine Weile gerührt das Blumenmeer. Der Kommissar war ein lieber Mensch, ein ganz lieber Mensch. Er hatte alles genauso gemacht, wie Wilfried es sich vorgestellt hatte.
Und nun war Zeit, sich zu verabschieden.
»Auf Wiedersehen, Onkel Ludwig«, sagte Wilfried. »Und vielen Dank für die schöne Tasche. Jetzt kann Wilfried in den Urwald gehen. Ganz allein.«
Wilfried nahm die Tasche auf und wollte gehen. Aber plötzlich war es so schrecklich still auf dem Friedhof, so als gäbe es keine singenden Vögel mehr und keinen Wind, der durch
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