Auf in den Urwald (German Edition)
in den Sessel fallen und hörte, wie der Hausmeister der Klinik auf dem Venusberg, der ihn hereingelassen hatte, die Tür hinter sich zuschlug, und wie draußen der Polizeibus wegfuhr, der ihn zurückgebracht hatte. Endlich ließ man ihn in Ruhe. Endlich wollte keiner mehr etwas von ihm wissen! Endlich konnte er machen, was er wollte.
Wilfried holte das Tagebuch aus der Brusttasche der Jacke und schlug es ungeduldig auf.
»Dienstag«, schrieb er. »Wilfried endlich wieder frei, Viele-Fragen-Zeit vorbei!«
Bei dem Wort »Viele« hatte Wilfried ein wenig Schwierigkeiten mit dem Schreiben. In der Seite befand sich nämlich ein kleines Loch. In jeder Seite, bis auf die letzten drei, gab es so ein Loch. Dort habe eine Kugel gesteckt. So hatte es ihm der Kommissar erklärt.
Wilfried konnte es zunächst gar nicht begreifen. Eine Kugel? Woher?
»Na ja«, meinte der Kommissar, »Sie erinnern sich an nichts, denn Sie haben so unglaublich fest geschlafen. Aber Ihre ... Ihre Tante, kann man wohl sagen, hat auf Sie geschossen. Glücklicherweise steckte in Ihrer Brusttasche das Tagebuch und die vielen Seiten und vor allem der dicke Blechumschlag konnten die Kugel abbremsen.«
Jetzt verstand Wilfried. Das sah ihr ähnlich! Sogar beim »Peng-Peng!«-Spiel betrog sie, wo sie nur konnte, und machte auch noch sein schönes Tagebuch kaputt. Aber zum Glück war es damit vorbei. Niemand widersprach ihm mehr, wenn er sagte, sie sei eine Lügnerin, und der Kommissar und die anderen Leute sagten nicht mehr »Ihre Mutter«. Man hatte sie in irgendein Haus gesteckt, in dem man auf sie aufpasste, und Wilfried versichert, er brauche sie nicht wiederzusehen. Und damit war genug. Wilfried hatte keine Lust mehr, an sie zu denken. Er wollte sie so schnell wie möglich vergessen.
Das gelang ihm ohne große Anstrengung. Man ließ ihn nämlich kaum in Ruhe. Zuerst stellte ihm der Kommissar alle möglichen Fragen. Wie es in Brasilien im Urwald gewesen sei. Wie er von dem Flugzeugabsturz erfahren habe. Wo er sich anschließend aufgehalten habe. Ob sie und Onkel Ludwig Streit miteinander gehabt hätten. Ob er sich erklären könne, warum Ludwig nach Deutschland gekommen sei. Wie er und Edek den toten Onkel gefunden hätten. Wie Onkel Ludwig in der Geisterbahn im Sarg des »Toten Mannes« gelegen habe. Und noch vieles, vieles mehr, es wollte kein Ende nehmen. Dann, als Wilfried schon glaubte, man habe alles erfahren, brachte man ihn weg in ein anderes Haus. Eines, wie er es schon von früher her kannte.
Dort kamen Leute auf sein Zimmer, manche in weißen Kitteln, manche nicht, und stellten ihm die gleichen Fragen. Wilfried gab sich jede Mühe, höflich zu antworten. Irgendwann aber, als man wieder und wieder dasselbe von ihm wissen wollte, wurde ihm das zu viel, und er sagte nur noch »Ja« oder »Nein« oder einfach gar nichts.
Erst als eines Tages gleich nach dem Mittagessen ein Mann zu Wilfried kam, den Wilfried zuvor noch nicht gesehen hatte, wurde er wieder gesprächiger. Der Mann trug eine silberumrandete Brille und hatte eine tiefe, beruhigende Stimme. Er stellte sich vor und erklärte, man habe ihn gebeten, sich ein bisschen mit Wilfried zu unterhalten. Aber nicht über Onkel Ludwig, sondern einfach so. Ob er damit einverstanden sei.
Wilfried nickte. Gegen eine Unterhaltung hatte er nichts einzuwenden.
»Gut«, sagte der Mann und setzte sich. Er schlug die mitgebrachte Mappe auf, nahm einen Kugelschreiber zur Hand und fragte: »Wie heißen Sie?«
»Wilfried«, sagte Wilfried höflich, obwohl er das in letzter Zeit schon so oft gesagt hatte.
»Ausgezeichnet, und weiter?«
»Jagenberg.«
»Ausgezeichnet. Und wie alt sind Sie?«
»Zwanzig.«
»Ausgezeichnet. Und wie groß sind Sie?«
Wilfried stand auf. »So groß!« Er lächelte.
»Ausgezeichnet«, sagte der Mann und schrieb etwas auf. »Wissen Sie, wie viele Zentimeter das sind? Ungefähr?«
»Nein«, sagte Wilfried.
»Aber in Ihrem Personalausweis steht geschrieben, dass es 210 Zentimeter sind!«
Wilfried überlegte. »Ich habe meinen Personalausweis nicht gelesen.«
»Und warum nicht?«
»Weil es kein Buch ist«, sagte Wilfried ziemlich erstaunt. »Wenn Wilfried liest, dann in einem Buch.«
»Interessant.« Der Mann kritzelte mit dem Kugelschreiber in seinen Unterlagen. »Und welche Bücher haben Sie gelesen? Sie dürfen sich übrigens wieder setzen ...«
»Danke«, sagte Wilfried und setzte sich. »Das letzte Buch, das ich gelesen habe, hieß: ›Syllabus der
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