Auf in den Urwald (German Edition)
die Bäume rauschte.
Wilfried schaute auf das Grab und blinzelte, weil ihm das wunderfarbige Blumenmeer ein bisschen vor den Augen verschwamm. Sein geliebter Onkel Ludwig war tot. Für immer musste er Abschied von ihm nehmen. Genauso, wie damals von seiner Mama und seinem Papa ...
Wilfried wartete, ob es vielleicht besser werden würde. Er wollte doch eigentlich in den Urwald gehen, wie hatte er sich schon darauf gefreut! Aber es wurde nicht besser, überhaupt nicht. Seine Augen brannten immer mehr und etwas schnürte ihm die Kehle zu. Onkel Ludwig war tot. Und er stand hier ganz allein ... Niemanden hatte er mehr auf der Welt und niemand hatte ihn. Genau so war es.
Wilfried ließ die Schultern sinken.
»Ich bleibe noch ein bisschen hier, Onkel Ludwig«, sagte er leise. Er versuchte, sich mit einem Lächeln zu entschuldigen, aber es ging nicht. Zu sehr bebte sein Mund, während ihm Tränen über die Wangen liefen und auf seine Riesenhände tropften, in denen er Onkel Ludwigs große Urwaldtasche hielt.
· 2 ·
D ie Lichter flackerten wild und bunt, Nebel schoss von oben herab in das bunte Strahlengewühl und die Musik, unbändig pulsierend, riss Edek wieder mit. Er tanzte. Wie ihm schien, schon seit einer ewig langen Zeit. Es war ganz einfach. Und es machte Spaß, sogar großen. Dabei hatte ihn Mirja seit gestern Nachmittag überreden müssen, in die Disco zu gehen. Richtig wütend war sie geworden, als er sich immer neue Ausreden einfallen ließ. Mirja tanzte ganz nah vor ihm. Im Gegensatz zu Edek, der es eisern in seiner Lederjacke aushielt, obwohl der Schweiß in Strömen an ihm herabfloss, hatte sie ihre Jacke ausgezogen. Ihr T-Shirt strahlte unwirklich weiß im Schein der Schwarzlichtlampen und ihre Augenlider und Lippen, die Edek zum ersten Mal geschminkt sah, leuchteten glänzend auf, wenn sie ins Licht der rhythmisch rotierenden Scheinwerfer gerieten. Von Tanz zu Tanz hatte Edek das immer mehr erregt, und irgendwann, als langsame Musik gespielt wurde und sie eng aneinandergeschmiegt eigentlich nur auf der Tanzfläche standen, hatte er ihr ins Ohr gesagt, er werde sie gleich im Wohnwagen von Kopf bis Fuß und Zentimeter für Zentimeter abküssen.
»Und danach ich dich!«, hatte ihm Mirja geantwortet und ihm ganz zärtlich in die Augen geschaut.
Edek lächelte Mirja zu. Er hätte jetzt stundenlang so weitertanzen können. Wie im Rausch. Im Glücksrausch. Ja, er hatte verdammt Glück gehabt. Mehr Glück, als jeder Gringo der Welt vor ihm!
Es hatte schon damit begonnen, dass der Richter an jenem verhängnisvollen Donnerstag letzte Woche beim Haftprüfungstermin zu Edeks Verblüffung entschied, dass er nicht in Haft genommen werden solle.
»Bedanken Sie sich dafür bei der Tochter Ihres Chefs«, sagte der Richter zu Edek. »Sie hat mir die schlechte wirtschaftliche Situation des Geisterbahnbetriebs geschildert. Wenn ich Sie in Haft nehmen lasse, geht der Betrieb zugrunde. Das will ich nicht verantworten. Zumal Sie nicht vorbestraft sind und man Sie – soweit ich das bis jetzt überblicken kann – nur wegen eines einfachen Autodiebstahls anklagen wird. Die zufällige ›Entführung‹ einer Leiche und der anschließende Entschluss, den Toten in Bonn zu beerdigen, ist zwar kurios, aber strafrechtlich nicht zu verfolgen. Ich gehe davon aus, dass Sie mit einer Bewährungsstrafe davonkommen werden.«
Anschließend machte er Edek noch die Auflage, während seiner freien Zeit dem Kommissar für die Ermittlungen zur Verfügung zu stehen und sich nach Abschluss des Verfahrens an jedem neuen Ort bei der Polizeibehörde zu melden.
Aber das war erst der Anfang von Edeks unglaublichem Glück. So richtig zum Zuge kam es dann während der Vernehmungen durch den Kommissar. Edek bekam jetzt noch ganz seltsame Gefühle, wenn er sich daran erinnerte. Alles Mögliche hatte der Kommissar von ihm wissen wollen, sogar über seine Zeit in Polen und in Texas hatte er sich alle Einzelheiten erzählen lassen. Nur eine Sache, die, vor der sich Edek am meisten fürchtete, die kam nicht zur Sprache: die Erpressung.
Edek wunderte sich von Tag zu Tag mehr.
Am Donnerstag, auf der Kirmes, hatte er so viel über den Diebstahl des Transporters und die anschließende Zeit mit Onkel Ludwig in der Geisterbahn zu erzählen gehabt, dass der Kommissar ihn bald unterbrochen hatte. Er sagte, Edek müsse alles gleich noch einmal ordentlich auf dem Polizeipräsidium zu Protokoll geben, hier im Wohnwagen hätte es keinen Zweck. Bei
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