Auf in den Urwald (German Edition)
und berauschte sie gleichzeitig mit einer ungeheueren Klarheit. Dieser Verrückte war auch schon tot. Er war der Letzte, der sich nicht von ihr hatte täuschen lassen. Der Letzte, der wusste, dass sie nicht die wirkliche Vanessa Jagenberg, sondern ihre Schwester Iris war. Ja, sie hatte damals ihrer verhassten Schwester nicht nur den Schädel zertrümmert, sondern auch ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Und nur die Kontaktlinsen in ihren Augen vergessen, den verlöschenden ... Anschließend hatte sie sich in Rio de Janeiro, der heimlichen Hauptstadt der Schönheitschirurgie, ihr Gesicht so korrigieren lassen, bis es aussah wie das Gesicht ihrer Schwester. Schwierig war das nicht gewesen ...
Das Lachen hörte genauso plötzlich auf, wie es begonnen hatte.
»Alle sind auf die Täuschung hereingefallen und haben mir geglaubt, nur du nicht«, sagte Vanessa Jagenberg zu Wilfried. – Draußen, vor dem Haus, fuhr ein Wagen vor. Jemand betrat das Haus. Aber Vanessa Jagenberg hörte das nicht, zu sehr war sie schon wieder in Rage geraten. – »Du hast stets gewusst, dass ich nicht deine Mutter bin. Du hast es gewusst mit der primitiven Sicherheit eines Kindes, eines Verrückten, eines Schwachsinnigen. Doch damit ist es vorbei! Schau dir deinen heißgeliebten Onkel Ludwig an! Wie schön tot er im Sessel sitzt. Vor drei Monaten saß er noch ganz lebendig da. Er führte sich großartig auf und meinte, mir beweisen zu können, dass ich meine Schwester damals im Urwald umgebracht habe. Und ich ließ ihn glauben, er würde das Geld bekommen, das ich ihm schuldete. Drei Millionen sollten es sein. Nicht ein Cent ist es geworden. Nur eine schöne Portion Gift! Und jetzt ist auch dein Ende gekommen, Wilfried!«
Vanessa Jagenberg richtete den Revolver auf Wilfried.
»Polizei! Lassen Sie sofort die Waffe fallen!!!«
Vanessa Jagenberg schaute sich ungläubig um und erblickte hinter sich einen Mann und zwei Polizisten.
»Nein«, sagte sie ganz ruhig. Dann, bevor überhaupt jemand eingreifen konnte, zielte sie auf Wilfrieds Brust und drückte ab.
Ein ohrenbetäubender Knall schlug an die Wände des Wohnzimmers.
Wilfried zuckte, als habe ihn etwas erschreckt. Aber er fiel nicht um. Weiter stand seine riesige Gestalt im Dunkel des Raums.
»Du Bestie! Du verfluchte, irrsinnige Bestie!« Vanessa Jagenberg wollte noch einmal abdrücken, doch in der gleichen Sekunde schlug ihr der Kommissar von hinten die Hand hoch und der Revolver flog zu Boden.
Vanessa Jagenberg starrte Wilfried an. Warum fiel er nicht tot um? Wo war sie hier? In einem Irrenhaus? In einem Albtraum?
Vanessa Jagenberg spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sie taumelte.
»Los, holen Sie einen Stuhl!«, befahl der Kommissar einem der Polizisten und stützte Vanessa Jagenberg.
Der Polizist holte rasch einen Stuhl. Vanessa Jagenberg sank auf ihn nieder, während sie mit weit aufgerissenen Augen Wilfried anstarrte. Er stand noch immer da, als sei nichts geschehen. Und jetzt löste sich von seinem schattenhaften Gesicht langsam ein anderes Gesicht. Erst undeutlich, aber dann immer klarer werdend. Ein zerschlagenes Gesicht, ein unförmiges Gesicht, eines, das keines mehr war.
»Nein«, flüsterte Vanessa Jagenberg, »nein, nein, nein.« Aber das Gesicht erfüllte den ganzen Raum und war schließlich überall.
»Die Frau steht unter einem gewaltigen Schock«, sagte der Kommissar zu dem Polizisten, der den Stuhl gebracht hatte. »Rufen Sie sofort einen Arzt. Und Sie«– er wandte sich an den anderen Polizisten, der erstaunt Wilfried anstarrte – »Sie schauen endlich nach, was mit dem Mann ist! Warum rührt er sich nicht?!«
Der Polizist löste sich von der Stelle und ging langsam zu Wilfried. Er berührte vorsichtig seinen Arm. Nichts geschah. Verunsichert gingen die Blicke des Polizisten nach oben. In Höhe der riesigen Brust, die sich über ihm ausbreitete, war in der Jacke ein Schussloch zu sehen. Aber keine Spur von Blut. Stattdessen senkte und hob sich die Brust in einem ruhigen, völlig entspannten Rhythmus wie ein verwunschener, atmender Berg.
»Herr Kommissar ...« – der Polizist musste erst noch schlucken, so unglaublich erschien ihm, was er zu melden hatte – »ich glaub, wie soll ich sagen, ich glaub, der schläft ...«
»Er macht was???«
»Er schläft. Ganz tief und fest. Im Stehen ... Wie ein Pferd! Wirklich ...«
Die Sonne scheint überall
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W ilfried ließ sich
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