Auf Inseln (German Edition)
spielten kaum noch eine Rolle. Das Tagebuch gab mir scheinbar Halt, war eine Brücke zur Realität, wer immer diese auch jemals definiert hatte. „Realität“, echote es in meinem Kopf. „Wer bist du?“ Ich nannte, beziehungsweise dachte meinen Namen, aber wohl vergebens. „Bist du?“, erklang es wieder. Ich überlegte mir eine Antwort. Manchmal waren die Fragen recht verwirrend. „Bist du eine Zahl?“, war eine von diesen. Vielleicht lag ein Übersetzungsfehler vor und gemeint war, ob ich eine Nummer sei, ein Rädchen im Getriebe unserer Gesellschaft. Auf die Frage, welche Zahl ich sei, konnte ich bei Gott und bestem Willen keine Antwort geben. „Wer bist du?“, fragte ich zurück, aber ich bekam keine Antwort. Ich notierte in meinem Buch: „vergebliche Kommunikationsversuche“ Das Funkgerät riss mich eine Zeit lang aus meiner eigenen Welt raus. „Ist noch alles ok?“ - „Ich stehe im telepathischen Kontakt mit den Aborigines“ - „Und was sagen sie?“ - „Sie haben Fragen“ - „Kommt eine sinnvolle Kommunikation zustande“ - „Ich glaube nicht wirklich“ - „Könnte das alles ihre Einbildung sein?“ - „Ja, das ist möglich, aber alles erscheint sehr real.“ - „Was machen die anderen?“ - „Ich weiß nicht!“ Der Druck um meinen Kopf nahm wieder enorm zu. Ich konnte das Funkgespräch nicht weiter fortführen, war aber in der Lage ein paar Zeilen in mein Buch zu schreiben. „Unser Lager scheint von Aborigines umringt zu sein“, notierte ich in das kleine schwarze Buch. Mir fiel auf, dass Paul immer noch lachte. Worüber konnte er mir nie erzählen. Die Schreie in meiner Nähe störten mich nicht weiter, aber es fiel mir dann doch auf, dass die drei anderen Männer versuchten, die beiden Frauen zu vergewaltigen. Ungerührt schaute ich dem Spektakel zu. Die Echos in meinem Kopf versuchte ich nicht weiter zu beachten. Die Haare der beiden Frauen waren nicht sonderlich sehenswert. Die Frauen schienen sich zu wehren und ich bekam das erste Mal das Gefühl, dass hier etwas nicht in Ordnung war. Konnte es hier zur Blutorgie kommen? Ich versuchte meinen Nächsten anzustoßen, ohne Ahnung, worüber der so lachen konnte. „Paul hilf mir. Wir müssen eingreifen“ Dieser reagierte nicht. „Paul, hilf mir!“ Die Aborigines waren offensichtlich auch nicht gewillt, das Verbrechen zu verhindern. Obgleich die Zeit zäh wie Honig war, stürzte ich mich auf die Männer, um die Frauen zu befreien. Der Kräftigste von ihnen schlug mich nieder. „Wer bin ich?“, fragte ich mich. Die Frauen schrien, die Männer grölten; ein weiterer Versuch scheiterte. Ich sah, wie Paul ein Schlauchboot löste. „Warte auf mich!“, schrie ich ihm zu und versuchte mich durch den Leim der Zeit zu ihm zu bewegen, egal wer ich war. Ich vergaß das kleine schwarze Buch nicht, ebenso wenig Funkgerät und Kamera. Lachend empfing mich Paul auf dem Boot, startete den Motor und drückte den Fernsteuerungsknopf, so wie er es in den Übungen gelernt hatte. „Haha, alles unter Kontrolle“, wiederholte er notorisch. Das Funkgerät ging los. „Wie viele seit ihr?“ - „Wir sind zu zweit“ - „Und die anderen?“ - „Die haben Sex“ - „Wie bitte?“ - „Da läuft eine Vergewaltigung“ - „Bitte, was?“ - „Eine Vergewaltigung!“ - „Keine Angst, das Boot wird sie sicher zur Sankt Bonifazius bringen.“ Das Boot nahm Fahrt auf. Ich schaute zurück auf diese unheimliche Küste, schaute in diese traurigen Augen, ohne eine Antwort gegeben zu haben, wer ich war.
Mit dem Abstand, den wir von der Küste gewannen, schwand der Druck auf meinem Schädel. Paul wurde ruhiger und obgleich auf einem Schlauchboot schien die Welt an Stabilität zu gewinnen. Dunst lag auf dem Meer, sodass die Küste schnell nur noch schemenhaft zu erkennen war. Womöglich der Grund, dass die Beobachter der Sankt Bonifazius von den Vorfällen nichts mitgekriegt hatten. Man würde später versuchen, das Filmmaterial auszuwerten. Mein letzter Eintrag in mein Tagebuch war: „Das Experiment scheint gescheitert zu sein. Größere Angst habe ich nicht gehabt“ Ein bisschen übervorsichtig war die Crew der Sankt Bonifazius, da sie sich nicht näher als die sechs Kilometer an die Küste herangewagt hatte. Die Stimmen in einem Kopf wurden leiser.
Was hatte ich wirklich erlebt? Ich konnte nicht sicher sein, dass irgendetwas, was ich erfahren hatte, real war. Hatte ich tatsächlich Aborigines gesehen? Während Paul darüber anfing
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