Auf nassen Straßen
Dickkopf!« brummte der alte Baumgart.
»Was ist es dann?«
»Noch ein Funken Ehrbewußtsein.«
»Vielleicht wartet er darauf, daß wir ihm die Hand reichen.«
»Wir — ihm?«
»Einer muß nachgeben, Vater.«
»Und gerade ich? Ich, der Vater? Ich soll zu meinem Sohn kommen wie ein Schuldiger …? Weißt du, was du verlangst? – Was soll ich ihm denn sagen?« fragte er nach einer Weile des Schweigens.
Hannes atmete auf. Über sein kälterotes Gesicht zog ein freudiger Schimmer.
»Sag ihm einfach: Komm zurück!«
»Verrücktheit! – Er wird nicht kommen!«
»Ich werde ihm schreiben.«
»Und dann?«
»Dann warten wir ab. Entweder kommt er …«
»… oder?«
»Er kommt nicht. Aber wir wissen dann, woran wir sind. Die Ungewißheit ist weg, die Qual bei dem Gedanken, einen Bruder zu haben, der mich rettete und den keiner mehr will. Wenn er ablehnt, gut, dann gehen wir unseren Weg allein weiter …«
Zu Weihnachten heirateten sie.
Die Ankündigung dieses Festes und die Einladung dazu verband Hannes gleichzeitig mit einer ausgestreckten Hand an Jochen. Er schrieb, daß doch alles Dummheit gewesen sei. Sie alle erwarteten ihn – vor allem Mutter. Das wird ihn am meisten ansprechen, dachte Hannes, als er es schrieb. Und Erna Baumgart setzte mit ungelenker, schwerer, steiler Schrift hinzu:
»Ich erwarte dich, Jochen, zum Essen am Heiligen Abend …«
Als der Heilige Abend sich über den Hafen, die Schiffe, den Rhein, die Stadt und das Land gesenkt hatte, als die Glocken mit dem Weihnachtsläuten begannen und der Klang der Orgeln durch die kalte Nacht schwebte, saßen Erna Baumgart, der alte Baumgart, Hannes und Irene Ballin allein in der kleinen Wohnkajüte und tranken ein Glas. Auf einem kleinen Tisch in der Ecke brannten die Kerzen knisternd an einem winzigen Tannenbaum. Draußen vor dem Ruderhaus stand eine große Tanne auf dem Vorschiff, besteckt mit ein paar elektrischen Kerzen.
Jochen Baumgart aber kam nicht.
Jochen Baumgart hockte in einer Bar in St. Pauli.
Er war der einzige Gast. Zu keiner Zeit ist St. Pauli stiller als am Heiligen Abend. Nur die Entwurzelten sitzen auf den hohen Hockern oder hängen trübsinnig an den Tischen. Nur die Einsamen flüchten in dieser Nacht zum Alkohol. Nur die Ausgestoßenen sind in dieser Nacht blind, taub und gefühllos.
Jochen Baumgart sah in das hohe Glas mit dem Flip, das vor ihm stand. Er war allein auf dieser Welt – nie hatte er es deutlicher und erschreckender empfunden als in dieser Heiligen Nacht.
Jochen Baumgart bezahlte schnell und ging. Er irrte durch die weißen, menschenleeren Straßen.
Mutter … Alle haben sie eine Mutter oder einen Vater oder sonst einen Menschen, den sie lieben. Nur ich, ich habe niemanden. Ich bin ganz allein auf der Welt! Ich habe nur mein Geld, mein ergaunertes, mit Gemeinheit erkämpftes Geld.
Jochen Baumgart, wie armselig bist du doch!
Am Ende der Reeperbahn sah er noch Licht. Er stieß die Tür zu dem Lokal auf und betrat den großen Raum. Das Orchesterpodium war leer. An den Tischen saßen einige Seemänner, deren Schiffe in Hamburg ankerten und die wie Jochen Baumgart den heiligen Abend in einer Bar verbrachten. So kommt man am besten über trübe Gedanken hinweg – mit Alkohol, mit Mädchen, mit Witzen –, auch wenn es einem in der Kehle würgt.
Hinter der langen Bar, vor den riesigen Spiegelregalen mit den glitzernden Gläsern und Flaschen, stand ein Animiermädchen mit langen, schwarzen, über die nackten Schultern fallenden Haaren. Das enge, blutrote Abendkleid umschloß, paillettenbesetzt wie der Schuppenleib eines exotischen Fisches, den wundervoll gewachsenen Körper. Grüne Augen, flimmernd und den neuen Gast abtaxierend, empfingen Jochen.
Jochen Baumgart schwang sich auf den chromblitzenden Barstuhl.
»Sekt?« fragte das Mädchen. Ihre Stimme war dunkel. Wenn sie spricht, klingt es wie eine Melodie in Moll, dachte er und mußte über diesen Vergleich lächeln. Das Mädchen lächelte sofort zurück. Sie schob die grell bemalten Lippen auseinander und zeigte ihre kleinen, weißen Zähne.
»Wenn Sie unbedingt wollen – also Sekt.«
»Er ist für Sie am besten.«
»Gerade für mich? Wieso?«
»Weil Sekt fröhlich macht.«
»Und Sie glauben, ich will fröhlich sein?«
Das Mädchen zog die abrasierten und wieder mit schwarzem Stift nachgezogenen Augenbrauen hoch. »Es heißt doch heute: O du fröhliche, o du selige …«
Jochen Baumgart biß sich auf die Unterlippe. Sein Gesicht wurde
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