Auf nassen Straßen
dort, wo sie festgemacht hatte, lag jetzt ein älterer Schlepper und lud Juteballen ein.
»Vielleicht sollte es nicht sein«, sagte Hannes, als sie im Hafenrestaurant saßen und hinaus auf die Unterelbe blickten. Durch die von den Eisbrechern freigemachte Fahrrinne zogen langsam, von den erfahrenen Lotsen gesteuert, die Ozeanriesen und die großen Überseefrachter in die Hafenbecken hinein. Zollboote jagten mit schäumendem Kiel durch die einzelnen Fahrstraßen …
Irene rührte in ihrer Tasse Kaffee herum. »Sollten wir ihm nicht nachfahren, Hannes? Du kennst doch die Schleusen, wo wir ihn treffen müssen.«
»Ich renne ihm nicht nach.«
»Aber wenn wir schon in Hamburg sind. Was bedeuten sechs Stunden Vorsprung?«
Hannes Baumgart schüttelte den Kopf und legte seine großen, verarbeiteten Schifferhände auf die zarten Finger seiner Frau.
»Er wußte, daß wir kommen … Und er ist trotzdem abgefahren!«
»Er – wußte es?«
»Ich habe es ihm geschrieben, heimlich.« Hannes sah hinaus auf den Fährbetrieb. Seine Backenknochen stachen durch die Haut. »Ich habe ihm den genauen Tag angegeben …«
»Vielleicht hatte er einen festen Termin. Du weißt doch selbst, daß bei verderblicher Ladung …«
»Jochen fährt keine verderbliche Ladung. Das hat er nicht nötig. Er hat Maschinen geladen. Halbfertige Maschinen für eine Kölner Fabrik! Die hatten einen Tag Zeit.«
»Dann hat er deinen Brief nicht erhalten.«
»Er wurde an Bord gebracht. Ich habe mich auch danach erkundigt. Er hat den Brief! Aber er will uns nicht sehen.« Er nestelte seine Geldbörse aus der Tasche, legte zwei Markstücke auf den Tisch und erhob sich. »Komm, Irene. Wir fahren zurück nach Duisburg. Unser Schiff heißt ›Guter Weg‹. Wir wollen diesen guten Weg wirklich gehen – ohne Ärger, ohne Sorgen, ohne Streit. Ein guter Weg – für uns!«
»Und Jochen?«
»Er wird seinen Weg machen. Vielleicht kreuzen sich unsere Wege. Es wird sich dann zeigen, ob wir noch Brüder sind oder Todfeinde. Oft liegt dies eng beieinander.«
Der Brief war nicht verlorengegangen. Jochen Baumgart hatte ihn empfangen, aber er steckte ungelesen und ungeöffnet noch in seiner Jackentasche.
Als der Hafenpostbote das Schreiben brachte, war er gleichzeitig mit Betty Kahrmayr an Bord der ›Fidelitas‹ gekommen. Im Überschwang seines Glückes hatte Jochen den Brief achtlos in die Tasche geschoben.
Der Steward – so nannte sich hochtrabend einer der kleinen, krummen Galgenvögel, die Bunzel angeheuert hatte – fand den Brief beim Ausbürsten des Anzuges und zögerte einen Augenblick, ob er ihn in der Tasche lassen oder ob er ihn zum Chef hinauftragen sollte. Er entschied sich für das letztere.
»Ein Brief, Chef«, sagte der Steward und grüßte militärisch. Jochen Baumgart sah von seinem Journal auf.
»Einen Brief? Wohl besoffen, was? Vom Himmel gefallen als modernste Luftpost?«
»Er ruhte in Ihrer Jacke, Chef«, sagte der Steward vornehm.
»In meiner … Ach ja.« Jochen nahm das Kuvert. Er drehte es herum. Kein Absender. Poststempel Duisburg.
Ein heißer Stich durchzog sein Herz. Duisburg … Er erhob sich, klappte das Journal zu und steckte den Brief in seinen Rock. »Ich möchte nicht gestört werden!«
In seiner Kajüte trank er ein großes Glas Kognak. Dann schloß er die Tür zu, setzte sich in den Sessel und rollte mit seinem Kugelschreiber das Kuvert auf.
Er faltete das Blatt auseinander und las zuerst die Unterschrift. Hannes …
Dann las er Zeile nach Zeile, langsam, ergriffen, mitfühlend, was der Bruder dabei gedacht haben mochte, als er diese Worte niederschrieb.
»Mein lieber Bruder.
Ich nenne Dich so, weil Du es bist. Und es spricht sich leichter so, als wenn ich schreiben würde: Lieber Jochen. So kann man einen Freund anreden … Mit einem Bruder kann man anders sprechen.
Ich habe geheiratet … Du weißt es. Ich habe die liebste und süßeste Frau dieser Welt – es sei denn. Du heiratest einmal. Dann will ich sagen, daß Du auch damit mich übertroffen hast! Wir haben nun eingesehen, Irene und ich, daß alles, was hinter uns liegt in den vergangenen Monaten, Dummheit war. Warum sollen wir nicht – wie es sich gehört – Seite an Seite leben, eine glückliche Familie? Und sie wird noch glücklicher sein, wenn Irene ihr Kind bekommen hat – dann sollst Du Pate sein, und ist es ein Junge, wird er Jochen heißen, nicht anders. Und darum, lieber Jochen, laßt uns die Hand reichen und uns sagen: Wir waren Idioten! Laßt
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