Auf nassen Straßen
töten? Willst du ihn in den Rhein werfen? Tue es – anders kommst du nicht über mich hinweg!«
Eine Sekunde zögerte Jochen Baumgart, dann ließ er den Arm des Vaters los. Er wandte sich ab und ging mit gesenktem Kopf zurück zu dem Landesteg. Dort drehte er sich noch einmal um.
Der alte Baumgart und Hannes standen nebeneinander vor der Kajüte. Zwei Schatten. Drohend, stumm.
»Schickt mir den Koffer nach«, sagte Jochen. Er zwang sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »München, postlagernd Postamt 23.«
Die beiden Schatten antworteten nicht. Er wartete einen Augenblick, dann wandte er sich um und ging.
Acht Stunden nach seiner Ankunft im Hauptbahnhof von Duisburg saß er wieder in der großen Halle im Wartesaal und trank ein Bier. In acht Stunden heimatlos geworden – ohne Eltern, ohne Bruder, ohne Zukunft, ohne Geld.
Ein Ausgestoßener. Ein Verachteter. Ein Abgleitender …
Am nächsten Morgen betrat der alte Baumgart wieder festes Land. Er verließ die ›Guter Weg‹ und fuhr mit dem Fahrrad seines Sohnes Hannes zu der ›Bank für Schiffahrt und Handel‹.
In seiner Aktentasche, die hinten auf dem Gepäckträger eingeklemmt war, trug er alle Papiere seines Schleppkahns ›Guter Weg‹ mit sich: die Baukosten, die Rentabilität, den augenblicklichen Schätzwert, den Zustandsbericht des Wasser- und Binnenschiffahrtsamtes, eine Liste der festen Kunden, die neuen Aufträge, die Vorbestellungen der Frachten (sie waren mager), die Summe und Aufstellung der außenstehenden Rechnungen, die eigenen Verbindlichkeiten … Er trug in seiner Aktentasche seine ganze Welt zur Bank, um einen Strich unter ein Kapitel seines Lebens zu ziehen.
Im ›Büro für Beleihungen, Hypotheken und Kredite‹ saß er später dem Bankbeamten gegenüber und breitete vor diesem seine Papiere auf dem großen Schreibtisch aus.
»Es ist ein gutes Schiff«, sagte er und reichte ein Foto der ›Guter Weg‹ hinüber. »Ein bißchen alt, aber fahrtüchtig und stark. Aus bestem Material. Hier, das Prüfamt schreibt es extra. Nicht so leicht und flüchtig hingezimmert wie die neuen Schiffe, die in die Häfen flüchten müssen, wenn der Rhein Treibeis führt. Ich kann mit meinem Schiff durch das Eis fahren – der Kiel hält es aus! Es ist bestes Material! Und der Laderaum ist genauso groß wie der der neuen Schiffe.«
»Wie hoch wollen Sie das Schiff beleihen?«
Der alte Baumgart zuckte zusammen. Wie hoch? Er hatte sich keine Gedanken darüber gemacht. Er wußte plötzlich nicht, wieviel er Jochen geben wollte, wieviel der Sohn brauchte, um ein Leben zu beginnen, wie hoch die Summe sein konnte, ohne daß Jochen benachteiligt würde.
»Wieviel können Sie geben?« fragte er ungelenk.
»Wir könnten das Schiff – da es sich um eine erststellige Eintragung handelt – bis zu 25 Prozent seines Wertes beleihen. Allerdings, und das wissen Sie ja auch, sind die Zinsen hoch.«
»Ja«, sagte der alte Baumgart schwer.
»Ich werde Ihren Antrag mit den Unterlagen sofort in die Prüfungsabteilung hineingeben. Vielleicht werden einige Herren das Schiff noch einmal besichtigen. Wie lange bleiben Sie in Duisburg?«
»Noch zehn Tage. Dann habe ich Fracht nach Basel.«
»Das ist kurz.« Der Bankbeamte schob die Papiere Baumgarts in eine Klappmappe. »Vielleicht ist Ihnen mit einem Vorschuß gedient. Wir müßten diesen dann aber bis zur Klärung der Hypothekenangelegenheit über Ihr laufendes Konto gehen lassen. Als Überziehungsbetrag …«
»Schulden?« Der alte Baumgart erhob sich. Er schüttelte ein paarmal den Kopf. »Nein, das tue ich nicht. Ich habe nie in meinem Leben Schulden gemacht.«
»Es handelt sich um einen kleinen Betrag, den wir durch die Hypothek später decken. Alle Kreditnehmer machen es so.«
»Ich bin nicht alle! Ich habe meine Konten immer rein gehalten.«
»Das wissen wir. Darum bieten wir Ihnen dies auch an. Wir könnten Ihnen vorerst 3.000 DM geben.«
»3.000 DM …« Der alte Baumgart nickte langsam. »Ich werde sie Ihnen vor der Hypothek abtragen. Ich werde auch über diesen Berg kommen.«
3.000 DM. Die ersten Schulden. Schulden für Jochen.
Als der alte Baumgart wieder hinaus zum Hafen fuhr, wußte er nicht, wie es weitergehen sollte. Die Fracht nach Basel war die letzte … Er hatte nach Basel keine neue mehr! Und die Gelder, die er mit dieser Fahrt einnahm, reichten gerade aus, das Leben zu erhalten und den Ladebunker 2 auszubessern.
Im Hafen traf er Jochen. Er sah etwas blaß aus, unausgeschlafen, sogar
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