Auf Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela
entlädt
seine Erregung in einem Tanz der Verzückung. Die schönste Ausdrucksform
Aquitaniens, hier erscheint sie noch einmal als Inbegriff seelischer
Hochstimmung.“ 55
Zur himmlischen Gesellschaft
von Moissac gehören die vierundzwanzig Ältesten. Das sind Figuren von
nachdenklicher Fröhlichkeit, alle gekrönt, auf kleinen Thronen sitzend, in den
Händen Musikinstrumente oder Trinkgefäße haltend. Jeder einzelne hat seine
Einstellung zum Christus in der Verklärung: bewundernd, fröhlich, fragend,
nachdenklich, begeistert, tanzbereit... Hier wird in der Formelhaftigkeit der
Romanik schon das Individuum sichtbar. Auch der anbetende Mensch darf schon
„Person“ sein, einmalig, unverwechselbar.
Zu dieser — hier nur
angedeuteten — apokalyptischen Szene haben wir gewichtige Begleitpersonen und
-szenen im Gewände des Portals. Sie bringen den gläubigen Betrachter erst zum
Verständnis dessen, was die zentrale Botschaft des Tympanons dem Pilger, dem
Büßer, sagen will: Kehre um, bessere dich, tue Buße! Nur ein Beispiel:
„Auf dem westlichen
Portalgewände (links vom Eingang) entwickelt sich... das Gleichnis vom Reichen
und vom Armen... Auf der linken Seite stirbt der vom Aussatz bedeckte Lazarus,
dessen Seele von einem Engel abgeholt wird.“ 56 Es ist erstaunlich, wie groß die soziale
Komponente der mittelalterlichen Ethik und Frömmigkeit war! Wir tun heute so,
als hätten wir diese soziale Dimension und Verpflichtung erfunden... die
romanische Kunst belehrt uns eines Besseren.
Moissac — der künstlerische
Reichtum und seine Aussage sind überwältigend. Da sehen wir nicht nur das
Tympanon und seine Gewände, wir sehen auch den Kreuzgang mit seinen
sechsundsiebzig Kapitellen über einfachen oder doppelten Säulen. Eine
Bilderwelt tut sich auf, die im Reichtum ihrer Thematik und in der Schönheit
der Ausführung ihresgleichen sucht. Szenen des Alten und des Neuen Testaments
sind dargestellt, begleitet und unterbrochen von Ornamenten aus dem
Pflanzenreich, von Tierbildern und Fabelwesen in feinster Ausführung. Man
möchte nicht fortgehen, nur schauen. Der Pilger erlebt Verheißung. Er nimmt
diese Verheißung mit auf den weiteren Weg.
Uns führt dieser weitere Weg
nach Toulouse. Von der „Via Podiensis“ wechseln wir auf die „Via Tolosana“ und
sehen in Toulouse die Kirchen St-Sernin und Les Jacobins.
St-Sernin: Saturninus nennen
wir ihren Patron. Im Jahre 250 habe er seinen Widerstand gegen römischen
Mithraskult mit dem Leben bezahlt, von einem Stier sei er zu Tode geschleift
worden. Die Legende sagt, es sei just der ausgebrochene Opferstier gewesen, der
den „Verweigerer“ Saturninus mit sich gerissen habe. — Toulouse hat seinen
Heiligen, der Heilige findet seine Pilger, diese Pilger sind auch noch
unterwegs zu anderem Ziel: nach Santiago etwa. So wird Toulouse zum
Pilgerzentrum mit Eigenwert und zugleich zur Durchgangsstation.
Toulouse hat wohl gar versucht,
Santiago de Compostela vollends den Rang abzulaufen. „Zum Erstaunen der Pilger
wurden ihnen hier ebenfalls die Gebeine des hl. Jakobus gezeigt.“ 57 — Wie das auch
immer war mit dem wahren und falschen Jakob, Toulouse spielt eine wichtige
Rolle in diesem Spiel um Heiliges und Irdisches, um Gnade und Macht, um
Verschenken und Verdienen... Eine Fülle von Kunstwerken entsteht in der
Pilgerstadt. Manches dürfen wir noch heute bewundern. Vieles ist zerstört.
Wir bewundern die Kirche
St-Sernin. Sie ist der größte romanische Sakralbau Frankreichs. Ihr Bauprinzip
gleicht dem, das wir von „Pilgerkirchen“ seit Clermont-Ferrand und Conques
schon kennen, hier aber ins Großartige gesteigert: „Ihr Grundriß ist der einer
Kreuzbasilika ; daß sie genügend Raum bieten mußten, versteht sich
ohnehin, und allen gemeinsam ist der Chorumgang mit Radialkapellen...
Gleichzeitig vervielfachte sich die Zahl ihrer Schiffe; in Toulouse und
Compostela sind es deren gar fünf. Die Offizien am Hauptaltar sollten durch
nachdrängende Wallfahrer, die vor den Reliquien knien wollten, nicht gestört
werden. So führte man sie durch die äußeren Nebenschiffe... an ihr Ziel.“ 58 Über die
Rundbogenarkaden der Seitenschiffe, über die Bedeutung der Emporen — auch für
die Übernachtung der Pilgerscharen — haben wir schon gesprochen. — Domke macht
eine sehr wichtige Feststellung: „Die wunderbaren Spiele des Raumes, der
Durchblick auf Gewölbe, Säulen, Bögen wären nur dank eines Kalküls entstanden?
Doch gerade darin besteht die
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