Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
Handtasche dort hingehen.«
Brunetti war sprachlos vor Verblüffung. »Mensch, Mensch, Mensch«, sagte er nur. »Das hältst du für möglich?«
»Ich weiß nicht, was ich für möglich halte«, sagte Vianello. »Aber meine Tante ist nicht dumm, also muss derjenige, der ihr das Geld abluchst – falls sie das Geld nicht im Kasino verspielt –, ziemlich durchtrieben sein und nimmt womöglich auch noch andere aus.«
Brunetti wand sich von der Bank, ging zur Theke, kam mit zwei weiteren Gläsern Wasser zurück und nahm wieder Platz.
»Es gäbe einen offiziellen Weg«, sagte er.
»Wie?«
»Leitet Scarpa nicht die Ausbildung der neuen Beamten?«
»Schon, aber ich verstehe nicht…«
»Und zu den Dingen, die sie lernen sollen, falls sie keine Venezianer sind, gehört doch auch, Verdächtigen durch die Stadt zu folgen.«
Kein bisschen begriffsstutzig, spann Vianello den Faden weiter. »Und da Scarpa kein Venezianer ist, hat er keine Ahnung, wie man das macht.«
»Weshalb«, ergänzte Brunetti, »er diesen Teil der Schulung den Venezianern überlassen muss.«
Vianello prostete ihm mit seinem Wasser zu. »Ich weiß, man sollte nicht mit Wasser anstoßen, aber trotzdem…« Er nahm einen Schluck.
»Wir brauchen also nur«, sagte Vianello jovial im Plural, »Signorina Elettra zu bitten, die richtigen Venezianer zum Auskundschaften einzuteilen. Scarpa wird das egal sein: Dem sind wir alle gleichermaßen suspekt.«
Vianello winkte Bambola und rief: »Bringen Sie uns bitte zwei Gläser Prosecco?«
6
Es war nicht nur zu heiß, zum Mittagessen durch die Stadt zu gehen; es war sogar zu heiß, um überhaupt an Essen zu denken. Brunetti ging mit Vianello zur Questura zurück und sagte, er werde mit Signorina Elettra den Einsatzplan für den Stadtkundeunterricht absprechen, doch als er ihr Büro betrat, war sie nicht da. Er ging in seins zurück und rief Paola an, die geradezu erleichtert schien, dass er über Mittag nicht nach Hause kommen wollte.
»Ich bringe vor Sonnenuntergang keinen Bissen hinunter«, sagte sie.
»Ramadan?«, fragte Brunetti aufgeräumt.
Sie lachte. »Nein! Aber ab Mittag scheint die Sonne ins Wohnzimmer, also muss ich mich die meiste Zeit in meinem Arbeitszimmer verkriechen. Bei der Hitze kann ich nur drin bleiben und lesen.«
Schon das ganze Semester lang hatte Paola die Ferien herbeigesehnt und sich darauf gefreut, nur noch in ihrem Arbeitszimmer zu sitzen und zu lesen. »Ach, du Ärmste«, heuchelte Brunetti Mitleid.
»Guido«, flötete sie, »ein Lügner macht dem anderen nichts vor. Aber danke für das Mitgefühl.«
»Also dann, bis zum Sonnenuntergang«, erwiderte er nur und legte auf.
Das Reden übers Essen hatte in Brunetti so etwas wie Hunger geweckt, aber nicht genug, um das Gebäude auf der Suche nach Nahrung zu verlassen. Er zog eine Schreibtischschublade nach der anderen auf, fand aber nur eine halbvolle Tüte Pistazien, die er längst vergessen hatte, ein Päckchen Maischips und einen Schokoriegel mit Haselnüssen vom letzten Winter.
Er knackte eine Pistazie – und biss auf eine gummiartige Substanz. Er spuckte das Ding in seine Hand und warf es mit dem Rest der Tüte in den Papierkorb. Verglichen damit waren die Chips ausgezeichnet. Bei dieser Hitze, sagte er sich, sollte man viel Salz zu sich nehmen. Diese Menge hier genügte selbst am Äquator.
Der Schokoriegel war mit einer dünnen weißen Schicht überzogen, so ähnlich wie Kupfer mit Grünspan. Er nahm sein Taschentuch und wischte den Riegel so lange ab, bis er wieder nach Schokolade aussah: dunkle Schokolade mit Haselnüssen. Die mochte er am liebsten. Er flüsterte »Nachtisch« und biss ein Stück ab. Einwandfrei, so zart und cremig, wie er frisch gekauft vor sechs Monaten gewesen sein musste. Brunetti wunderte sich darüber, während er den Riegel verzehrte, dann senkte er den Kopf und spähte in den Tiefen der Schublade umher, ob da noch einer wäre, doch er hatte kein Glück.
Er sah auf die Uhr, immer noch Mittagspause. Das hieß, er könnte ungestört den Computer im Bereitschaftsraum benutzen. Als er dort ankam, stand Riverre an dem Schreibtisch, den er sich mit Sergente Alvise teilte, und zog sich gerade seine Uniformjacke an.
»Sie gehen essen, Riverre?«, fragte Brunetti.
»Ja, Signore.« Riverre wollte salutieren, was aber mit einem Arm halb im Ärmel völlig danebenging.
Brunetti folgte dem Pfad der Gewohnheit und sah darüber hinweg. »Könnten Sie auf dem Rückweg bei Sergio vorbeigehen und mir
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