Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
Elettra hatte sich »Zugang« zu den Gerichtsakten verschafft und Auskunft über Signor Punteras frühere Verfahren erhalten. Sowohl die Sache mit den umstrittenen Lagerhäusern als auch die mit dem verletzten Arbeiter waren Richterin Coltellini zugeteilt worden, und in beiden Fällen war es zu langwierigen Verzögerungen gekommen, weil wichtige Akten und Dokumente zeitweilig nicht aufzufinden gewesen waren. Darüber hinaus hatte es bei anderen Verfahren der Richterin ähnliche Verzögerungen gegeben. Und jedes Mal, das stand nach Signorina Elettras Recherchen fest, hatte eine Prozesspartei von diesen Verzögerungen profitiert. Allerdings wohnte die Richterin in ihrem eigenen Haus, das sie vor drei Jahren gekauft hatte, und zwar nicht von Signor Puntera.
Puntera, so hatten weitere Ermittlungen ergeben, hatte von Signor Fulgonis Bank ein äußerst günstiges Darlehen erhalten, und Signor Marsano war Anwalt in einer Kanzlei, die einmal einen Klienten in einem Prozess vertreten hatte, den jemand gegen Puntera anstrengte und verlor. In Signor Punteras Steuererklärung waren die Mieteinnahmen aus den drei Wohnungen an der Misericordia, darunter auch die der Fontanas, mit jeweils vierhundertfünfzig Euro pro Monat angegeben, was etwa 20 Prozent der ortsüblichen Miete entsprach.
Der Priester schritt um den Sarg herum und besprengte ihn, wiederholt den Weihwedel eintauchend, mit Weihwasser. Brunetti bemerkte, wie perfekt die Rituale des vorchristlichen Rom – Priester, die Beschwörungen murmelten, mit denen böse Geister vertrieben werden sollten; die Zukunft aus den Organen geschlachteter Opfertiere herauslesen – mit denen des modernen Italien übereinstimmten: böse Geister mit Zaubertee in Schach halten, mit Hilfe von Karten in die Zukunft schauen. Wir bringen Jahrhunderte hinter uns und lernen nichts.
Puntera war nur mit der Zeit gegangen: Nichts, was er getan hatte, war in irgendeiner Weise unüblich, auch würden sich Richterin Coltellinis Gefälligkeiten zu seinem Vorteil wohl kaum nachweisen lassen. Mit bitterem Zynismus musste Brunetti sich eingestehen, dass den beiden auch dann kaum etwas passiert wäre, wenn Fontana irgendwann einmal tatsächlich ausgepackt hätte. Allenfalls hätte es für Puntera und Coltellini eine Zeitlang etwas peinlich werden können, aber wenn Peinlichkeit gesellschaftliche Entfaltung verhindern würde, gäbe es weder eine Regierung noch die Kirche.
Orgeldröhnen unterbrach Brunettis Grübeleien und signalisierte das Ende der Messe; Brunetti und Vianello standen auf und wandten sich dem Gang zu.
Die vier Männer schoben den Sarg langsam Richtung Kirchenportal; als Erste folgte ihm Signora Fontana, in Trauerschleier und einem schwarzen Kleid, das ihre Arme ganz bedeckte. Ein Mann, den Brunetti nicht kannte, ging dicht neben ihr und stützte ihren rechten Arm. Zwei Schritte dahinter kam ihr Neffe, der Brunetti im Vorbeigehen zunickte. Brunetti erkannte ein paar Gesichter, Leute, die beim Tribunale arbeiteten; zu seiner Überraschung war auch Richterin Coltellini darunter. Alle blickten starr geradeaus oder auf den Boden vor sich.
Dann kam Arm in Arm ein jüngeres Paar, und dicht dahinter Signora Zinka, korpulent und schwitzend in einem schwarzen Kleid, das zu lang und zu eng war. Ihr Gesicht war feucht und aufgedunsen, aber nicht von der Hitze, dachte Brunetti. Einen halben Meter rechts von ihr ging Penzo, der den Eindruck machte, als sei er ganz woanders oder als wünsche er sich das jedenfalls.
Beim Anblick des nächsten Pärchens erkannte Brunetti, dass entgegen seiner Annahme die Hitze doch nicht alle notorischen Beerdigungsbesucher ferngehalten hatte. Maresciallo Derutti und seine Frau waren in der ganzen Stadt als eifrige Trauerfeierbesucher bekannt, wobei er stets die Ausgehuniform der Carabinieri trug, aus deren Reihen er bereits vor über zwei Jahrzehnten ausgeschieden war. Als der Maresciallo ihn passiert hatte, erklärte Brunetti den offiziellen Teil für beendet und trat endlich auch selbst in den Gang, dicht gefolgt von Vianello.
Langsam voranschreitend, wie der ernste Anlass es erforderte, erreichten sie schließlich den Ausgang. Noch aus dem Inneren der Kirche heraus beobachtete Brunetti, wie der Sarg ohne Glockengeläut zu einem an der riva vertäuten Boot geschoben wurde. Jetzt gelangten er und Vianello ins Freie; die gleißende Sonne auf dem Marmorpflaster blendete ihn so sehr, dass er sich wieder zur Kirche umdrehte; geschützt von seinem eigenen Schatten,
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