Auf und ab - Mord in Hellwege
schon lange durstig war. Er nahm die offene Flasche mit trockenem Weißwein aus dem Kühlschrank und füllte ein Glas für sich. Mit dem Getränk in der Hand schlenderte er, in Gedanken versunken, ins Wohnzimmer und stand unvermittelt vor Elke Lehmberg, die aufgestanden war und sich gerade von Susanne verabschieden wollte.
»Ach, Max. Gut, dass du gerade kommst. Du bist wahrscheinlich einer der wenigen Ehemänner, die abends noch nach Hause kommen.«
Sie war in guter Stimmung, und an ihrem leichten Kichern machte sich eine gute Rotweinlaune bemerkbar.
› Das passt ja gut, dass ihr in guter Stimmung seid ‹ , dachte Holten sarkastisch. Ihm war nicht klar, wie er anfangen sollte, er wusste aber auch, dass er das Unvermeidliche nicht länger hinauszögern durfte.
Elke sprach schon weiter:
»Männer, Männer, Männer.«
Sie tippte Holten auf die Brust.
»Ich bin hier, weil ich eine Vermisstenanzeige aufgeben möchte, Herr Hauptkommissar. Mein Ehemann Wilhelm ist abgängig, ich suche ihn schon den ganzen Abend. Neunundvierzig Jahre alt, einseinundachtzig groß, sechsundachtzig Kilo, leicht angegraute Haare, aber noch ganz knackig.«
Sie schwieg einen Moment, als ob sie den Wahrheitsgehalt ihrer Beschreibung im Nachhinein prüfen wollte. Dann redete sie weiter:
»Dabei wollte er eigentlich nur kurz mit dem Fahrrad los. Wo ist er abgeblieben? Hast du ihn gesehen?«
Holten fand die Situation nicht zum Lachen. Es war keine Zeit mehr, sich wohlgesetzte Worte zu überlegen. Er nickte.
»Und, wo ist mein abtrünniger Gatte? Ich warte schon den ganzen Abend auf ihn. So lange kann seine kleine Fahrradtour nun auch nicht dauern, und er stirbt, wenn er kein Abendbrot bekommt.«
»Setz dich erst einmal wieder, Elke, und Susanne, schenk Elke bitte nichts mehr nach.«
Susanne warf ihm einen fragenden Blick zu. Sollte auch sie besser nichts mehr trinken?
»Wo ist er denn nun? Er wollte doch auch noch arbeiten.«
»Er wird nicht mehr kommen«, sagte Holten leise.
Er sah keinen Sinn darin, ihr die Wahrheit noch länger zu verschweigen.
»Er wird nie mehr kommen«, wiederholte er, »er ist auf dem Richtweg gestorben.«
Susanne, die ja wusste, dass dort irgendetwas passiert sein musste, reagierte sofort richtig. Auch bei ihr hatte der Rotwein Wirkung gezeigt, trotzdem hatte sie die Dramatik der Situation sofort erfasst. Sie setzte sich neben Elke und legte den Arm um sie.
Elke allerdings wollte diese tröstende Geste nicht erlauben. Sie schob den Arm zur Seite.
»Mach keine Witze, Max, sag schon, wo er ist.«
Er schaute sie ernst an.
»Das ist kein Scherz, Elke. Wilhelm ist tot. Er ist ermordet worden.«
Er fühlte sich etwas besser, als er es ausgesprochen hatte.
In diesem Moment realisierte sie, dass Holten es ernst gemeint hatte und was der Sinn seiner Worte war. Elke Lehmberg war eine hübsche, strahlende Frau, die auch den Widrigkeiten des Lebens immer aufrecht gegenübergestanden hatte. Die Wandlung, die jetzt mit ihr vorging, glich der Wandlung, die eine frisch frisierte Frisur nimmt, die plötzlich einem schweren Regenschauer ausgesetzt wird. Kopf, Schultern, Arme und Hände sanken herab, der ganze Körper sackte nach unten. Sie schien plötzlich ganz nüchtern.
Holten suchte die Fernbedienung für den Fernseher, fand sie nicht und ging zum Gerät hinüber, um es abzustellen.
»Was sagst du?«, flüsterte sie kaum hörbar.
Er setzte sich ihr gegenüber in den Sessel und wiederholte:
»Es tut mir unendlich leid, Elke, aber Wilhelm ist umgebracht worden.«
Sie sah ihn verzweifelt an und flüsterte nur:
»Nein!«
Sie hatte endgültig begriffen, dass dies kein Scherz, kein dummer Männerwitz war.
Es war jetzt ganz still. Die beiden Frauen saßen auf dem Sofa, Susanne hatte Elke in den Arm genommen und hielt sie fest. Holten starrte in sein Glas und sinnierte über die Ungerechtigkeiten des Lebens. Nach einer scheinbar unendlich langen Zeit begann Elke zu weinen, zuerst leise, dann immer lauter. Es mündete in ein lautes Schluchzen. Wie lange die beiden Frauen so zusammengesessen hatten, wusste Holten später nicht mehr, aber er erinnerte sich immer daran, wie elend er sich gefühlt hatte.
Aber auch das ging vorbei, und schließlich lehnte sie ein weiteres von den Papiertaschentüchern ab, die ihr Susanne vorher ungefragt gereicht hatte.
Elke hatte sich nun gefasst und saß wieder aufrecht zwischen den beiden.
»Erzähl mir, was passiert ist«, verlangte sie tapfer, wirkte dabei jedoch immer noch ein
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