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Auf und davon

Auf und davon

Titel: Auf und davon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Thomas
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Nathan berichtete, daß es auch fast soweit gewesen wäre. In
kurzen Worten, aber voller Stolz und mit ein paar Ausschmückungen erzählte er
seine Geschichte. Nachdem er fertig war, sah Julia die Welt draußen
ausschließlich von drohenden Polizisten und scharfäugigen Urlaubern bevölkert.
Nathan hatte vergessen, etwas zu essen zu kaufen, doch allein der Gedanke, daß
er noch einmal weggehen könnte, versetzte Julia in schiere Panik. Sie teilten
sich eine Tüte Chips, die vom Vortag übriggeblieben war, tranken Wasser aus dem
Hahn in ihrem Zimmer, und Nathan wünschte, er wäre etwas vorsichtiger gewesen.
Das nächste Mal wollte er besser aufpassen, was er Julia erzählte.
    Nach dem Essen begutachtete Julia die
Kleider, die Nathan für sie gekauft hatte. Sie sahen ganz annehmbar aus, und
Julia zog sich in eine Ecke des Zimmers zum Umziehen zurück.
    Die Jeans und das T-Shirt paßten. So
groß und dünn, wie Julia war, hätte man sie darin gut für einen Jungen halten
können. Weniger froh war sie, als sie die krumme Nagelschere sah. „Damit kann
ich mir doch nicht die Haare schneiden“, protestierte sie.
    „Natürlich kannst du“, sagte Nathan. „Los,
das geht!“
    Julia stand mit der Schere in der Hand
vor dem kleinen Spiegel. Sie hatte Angst vor dem ersten Schnitt. Sie hatte
immer langes Haar gehabt, na ja, zumindest so lang, wie die dünnen Zöpfe eben
wuchsen. Es jetzt abzuschneiden, war ein gewaltiger Schritt. Außerdem hatte sie
sich daran gewöhnt, hübsch auszusehen. Es tat weh, das jetzt wieder rückgängig
zu machen.
    Ihr war fast übel. Sie nahm eine der
vorderen Strähnen in die freie Hand, schloß die Augen und ließ die Schere
zuklappen. Es gab ein Geräusch, als würde Stoff reißen. Julia schauderte und
öffnete die Augen. Die Tat war vollbracht — oder zumindest so gut wie. Jetzt
gab es kein Zurück mehr.
    Mit der kleinen Schere war es mehr ein
Hacken als ein Schneiden. Nathan schaute schweigend und mit wachsender Bestürzung
zu. Julia näherte sich der schieren Verzweiflung, während sie beobachtete, was
sie sich antat. „Es sieht furchtbar aus“, sagte sie heulend, als sie fertig
war.
    Das entsprach den Tatsachen. Das lange
Haar hatte ihre harten, knochigen Gesichtszüge geglättet und sie weicher
erscheinen lassen. Jetzt standen die Knochen wieder deutlich hervor — fast mehr
noch als mit den Zöpfen. Und was noch schlimmer war: Das geschnittene Haar war
fransig, ohne jede Form. „Komm, ich schneide hinten noch ein bißchen“, sagte
Nathan. Er schnippelte hier ein wenig herum und da und konnte tatsächlich auch
einiges ausgleichen, doch bald war klar, daß auch mit vereinten Kräften kein
anständiger Haarschnitt herauskommen würde, und wenn sie die ganze Nacht daran
arbeiteten.
    Julia war verzweifelt. Sie saß auf dem
Bett und schüttelte immer wieder den Kopf. „Ich geh so nicht raus, ich geh so
nicht raus“, wiederholte sie ständig.
    „Aber wir müssen raus“, sagte Nathan. „Die
Polizei. Komm schon, Jule, so schlimm ist es nicht.“ Dann hatte er plötzlich
eine Eingebung. „Ich weiß was — du kannst meine Mütze haben.“
    Er holte die Mütze, und Julia zog sie
auf. Sie verbarg einen Großteil des unmöglichen Haarschnitts. Zweifelnd
betrachtete Julia sich im Spiegel. „Was steht da vorne drauf?“ fragte sie
Nathan.
    Sie meinte die Schrift auf dem Kopfteil
der Mütze. Nathan ging nahe heran, um sie entziffern zu können. Er öffnete den
Mund und wollte Julia sagen, was da stand, überlegte es sich jedoch im letzten
Moment anders. „Ich kann es ohne Brille nicht lesen“, behauptete er.
    „Lügner“, sagte Julia.
    Sie nahm die Mütze ab und versuchte die
Buchstaben selbst zu entziffern. Die beiden Wörter waren nicht sehr lang. Julia
strengte sich mächtig an. KÜSS MICH, stand auf der Mütze. „Küß mich“,
verkündete sie. Der Triumph, tatsächlich einmal selbst etwas entziffert zu
haben, vermischte sich mit dem Entsetzen über das, was sie gelesen hatte. „Die
setz ich nicht auf“, entschied sie und schmiß die Mütze auf den Boden. „Ausgeschlossen.
Sowas setz ich nicht auf.“
    „Stell dich nicht so an“, sagte Nathan.
„So schlimm ist es auch nicht. Jede Menge Leute tragen solche Mützen.“
    „Ich nicht“, sagte Julia.
    „Jetzt komm, Jule.“ Nathan hob die
Mütze wieder auf und versuchte, sie Julia aufzusetzen. Julia stieß ihn weg und
setzte sich aufs Bett, die Hände auf dem Kopf und die Lippen zu einem Strich
zusammengepreßt. Sie verhielt

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