Auf zehn verschlungenen Wegen einen Lord erlegen
unverschämten Einlassungen, sein absolut inakzeptables Verhalten auf dem Dachboden.
Wenngleich sie gegen Letzteres nichts einzuwenden gehabt hatte.
Ihre Erfahrungen mit Männern waren überschaubar. Außer mit den Händlern im Dorf und dem Pfarrer hatte sie wenig Anlass, mit dem anderen Geschlecht zu verkehren – und schon gar nicht mit begehrten Londoner Junggesellen mit breiten Schultern, stahlharten Armen und unverschämt blauen Augen.
Nein .
Ihr Leben lang hatte sie diese Spezies gemieden: vermögende, charmante Lebemänner, die mit ihren perfekt gebundenen Krawattentüchern und ihrem sorglosen Lächeln jede Frau um den kleinen Finger wickelten. Männer, denen es ein Vergnügen war, andere ins Unglück zu stürzen.
Männer wie ihr Vater.
Männer, die alles ruinierten. Die ihre Ehen zum Gespött machten, die verblendete Frauen, welche sie einst geliebt hatten, in verzweifelte, von Selbsthass und Verachtung getriebene Furien verwandelten, die bei allen anderen die Schuld für ihr Elend suchten, nur nicht bei dem Mann, der sie verlassen hatte.
Und dann war Lord Nicholas St. John aufgetaucht, so gut aussehend und anmaßend arrogant, dass sie gleich meinte, er müsse einer von ihnen sein. Doch stattdessen wollte er ihr helfen, hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt, um das ihre zu retten, hatte ihr Mut gemacht – und das alles binnen weniger Stunden.
Kein Wunder, dass er sie so nervös machte. Nichts an diesem Mann war, wie es sein sollte. Oder zumindest nicht so, wie Isabel meinte, dass es sein sollte.
Jetzt saß er also hier fest. Als Gast des Hauses. Inmitten von zwei Dutzend Frauen, die hier vor den Übeln der Welt – sprich: Männern – Zuflucht gesucht hatten.
Und als wäre das nicht schon schlimm genug, hatte er sie auch noch geküsst.
Nicht, dass sie auch nur erwogen hätte, ihn davon abzuhalten.
Seit Jahren träumte sie schon von ihrem ersten Kuss. An unzähligen Orten hatte sie ihn sich ausgemalt, mit unzähligen gesichtslosen, namenlosen Männern – jeder von ihnen ein veritabler Held, versteht sich. Endlose Szenarien, die in Liebesschwüren und Heiratsanträgen gipfelten. Fantasien, wie unbedarfte junge Mädchen sie hegten.
Natürlich hatte sie gewusst, dass Träumen vergebens war. Helden gab es nämlich nicht. Und dass eine Frau durch Liebe erst Sinn und Erfüllung fand, stimmte auch nicht. Vielmehr hatte sie die Erfahrung gemacht, dass Liebe Frauen schwach machte, sie in Leid und Verzweiflung stürzte.
Darauf konnte sie gut verzichten.
Und doch hatte sie in Lord Nicholas’ Armen eine Ahnung dieser Verheißungen bekommen. Fast war sie wieder das junge Mädchen gewesen, das von ihrem ersten Kuss träumte.
Allerdings hatte sie nie davon geträumt, dass sie ihren ersten Kuss auf dem verstaubten Speicher ihres Familiensitzes bekäme, nachdem sie kurz zuvor fast vom Dach gefallen wäre.
Der Fairness halber musste allerdings auch gesagt werden, dass sie sich ihren ersten Kuss längst nicht so wunderbar vorgestellt hatte.
In keinem ihrer Träume, auch nicht den geheimsten, hatte sie sich jemals vorgestellt, von einem Mann geküsst zu werden, der so … nun ja … so männlich war.
Ihr leises Seufzen ließ die anderen aufhorchen. „Isabel?“, fragte Jane argwöhnisch. „Hast du uns etwas zu sagen?“
Isabel senkte den Blick auf die durchnässten Aufschläge ihrer Breeches. „Nein, was sollte ich denn zu sagen haben?“
„Was ist auf dem Dach geschehen, nachdem ich dich mit Lord Nicholas allein gelassen habe?“
„Du warst mit ihm allein ?“, rief Gwen aufgeregt. „Das ist perfekt! In Perlen und Pelissen steht, dass man ihm nicht aus dem Sinn gehen sollte!“
„Das dürfte sich einrichten lassen, nachdem der arme Mann nun hier festsitzt“, bemerkte Isabel trocken.
„Die beiden allein auf dem Dach zu lassen, war eine prächtige Idee! Gut gemacht, Jane!“
Jane verdrehte die Augen. „Es war nicht meine Absicht. Aber wäre ich geblieben, hätte er früher oder später gemerkt, dass ich kein Mann bin. Meine Rettung war, dass er kaum den Blick von Isabel wenden konnte.“
„Das stimmt doch gar nicht!“, empörte sich Isabel.
Oder vielleicht doch?
„Ach“, meinte Kate. „Na, das würde erklären, weshalb er so komisch reagiert hat, als er dich gestern auf dem Dach gesehen hat.“
„Er hat überhaupt nicht komisch reagiert!“, rief Isabel. „Es kommt nur nicht jeden Tag vor, dass eine Dame auf dem Dach ihres Hauses herumklettert.“
„Doch, mir ist das auch
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