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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Hand vor der Sonne und schwenkte die andere so träge, als winke sie einen von weit her zu sich hin.
    »Kommst du bei misch, Hilla, oder bei die Mama? Komm doch erst mal rauf!« Maria machte das Fenster zu, zog die Vorhänge zusammen.
    Ich stellte mein Fahrrad ab. Die Plastikschnüre, von allmählich verwitternden Zwergen inzwischen im vierten Jahr unbeirrt in den gipsernen Händen gehalten, zitterten im Wind, der das Wasser der Angelpfütze ein wenig kräuselte.
    Die schmalere Haushälfte war genau auf die Bedürfnisse von Onkel und Tante zugeschnitten: eine geräumige Küche unten, daneben ein Wohnzimmer. Oben ein Schlafzimmer und ein kleines
Zimmer. Nach der Auflösung ihrer Verlobung hatte Maria sich den größeren Raum eingerichtet, die Eltern schliefen in der Kammer. Dusche und WC hatte Rudi der kranken Schwägerin nachträglich einbauen lassen.
    Maria wartete an der Treppe, lupfte das Vorderteil ihrer Bluse von der Haut weg. »Der Katalog is da!«, schwenkte sie mir das schwere Ding entgegen. »Dat Hanni backt schon Kuchen!«
    Kam ein neuer Katalog, breitete sich bei den Frauen eine Stimmung aus wie vor Zeiten, wenn sich der leibhaftige Wäschemann ankündigte. Jetzt kam der Wäschemann per Katalog. Per Selbstbedienung. Mindestens genauso verführerisch. Wenn auch anders. Was vom Wäschemann fehlte, die schmeichlerische Verwandlung der Hausfrauen in begehrenswerte Weiber, ersetzte der Katalog mit einem verlockenden Überangebot an Waren und der unbeschränkten Möglichkeit des Zugriffs, des unbeobachteten Zugriffs. Preise, kleingedruckt am Ende der Größentabelle, konnte man erst einmal übersehen.
    »Aber der hat Zeit.« Maria legte den Katalog beiseite. »Setz disch erst mal und erzähl. Mir haben uns ja lang nit mehr jesehen.«
    »Da is ja auch dat Hänsjen«, sagte ich ausweichend und trat an das Bauer. Was sollte ich Maria erzählen? Der pathetische Held ist unbedingt? Wählt der Dichter die epische Gangart, so wird uns seine Erzählung fesseln? Die Funktionen des Liedes im Marmorbild?
    »Ja, dat Hänsje«, sagte Maria. »Dat is jetzt schon dat dritte. Un isch finde, jedesmal werden die Diersche schöner. Un singen kann der! So komm, sing doch mal!« Hänschen aber tat ihr den Gefallen nicht, hüpfte nur hin und her zwischen Stange, Napf und Käfigboden.
    »Lässt du ihn denn nicht mehr fliegen? Weißt du noch, wie der eine immer in deine Haare fliegen wollte?«
    Maria kicherte. Sogar über ihre Perücke, die wir nie anders als »Haare« nannten, konnte sie längst lachen. Ihr eigenes Haar war wieder gewachsen, allerdings in einem aschigen Grau und
unregelmäßigen, wenn auch dichten Büscheln. Von Zeit zu Zeit fuhr sie sich mit allen zehn Fingern durch die kurzen Strähnen und zupfte ein wenig an den Spitzen, als wolle sie sich vergewissern, dass alles noch dran war.
    »Neue Vorhänge, Maria?«, nickte ich zum Fenster. »Die sind aber schön!«
    »Ja«, sagte Maria glücklich. »Un die Jarnitur hab isch vom Hanni. Die haben schon wieder wat Neues. Un die Sessel hier«, deklamierte die Cousine wie auf der Bühne, »jeben jedem Raum Frische und Lebendigkeit.« Sie lachte: »So sagen sie doch immer im Fernsehen. Un die Vorhänge passen doch so jut dazu. War en Schnäppsche.«
    Hinter den cognacfarbenen Sesseln bauschte sich das noppige Gewebe beiger Stores. Maria ließ die Hand zwischen die Stofffalten gleiten. »Man will doch auch einfach mal wat Schönes haben. Kuck mal hier, dat Bild, auch neu.« Maria schob den Vorhang ein wenig zur Seite. Ein ovales Holzbrett mit künstlich rußgedunkeltem Rindenrand, darauf hellgelbe, grüne und blaue Kleckse und Streifen, Sand, Meer und Palmen andeutend.
    »Hawaih«, erklärte sie. »Escht Öl. Nix wie Strand un Meer un Himmel un e paar Palme.« Maria kicherte. »Weiß de noch, dä Clemens Wilmenrod mit seinem Toast Hawaih?«
    »Un die Tante«, ergänzte ich, »mit ihrer Marrokaner-Kirsche?«
    »Schad, dat et den nit mehr jibt. Wie der jeden Freitag in nem Viertelstündschen en janzes Essen kochen konnte! ›Liebe Freunde in Lucull!‹, hat er ja immer anjefangen. Un alles mit dem ›Schnellbrater Heinzelkoch‹! Un Kirschen, Erdbeeren, Himbeeren, alles in Rum.« Maria schüttelte sich.
    Es klingelte. »Pst«, Maria legte den Finger an die Lippen. »Da komme se.«
    Dann, mich mit einem schnellen Blick von Kopf bis Fuß musternd und mir den Katalog zuschiebend: »En bisschen netter könntest du disch wirklisch anziehen. Schad, dat dir meine
Sachen alle zu jroß sind.

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