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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Rasseln, das den Friedhof neun Stunden am Tag überzog, war verstummt. Feierabend.
    Wortlos erhob ich mich. Zog die Hose hoch, steckte die Bluse in den Gürtel. »Bis morgen, Peter«, sagte ich leise.
    »Von wejen bis morjen!« Das Mädchen ließ Peters Arm los, packte meinen, ich zerrte, wich zurück, doch sie ließ erst locker, nachdem sie mir lange genug ihren linken Handrücken vor die Augen gehalten hatte. Goldener Reif mit grünem Stein und blauem Stein. Grün wie die Hoffnung, die Treue so blau. So, wie er damals aus dem Kästchen gefallen war, so, wie ihn Peter mir damals nicht gegeben hatte.
    Hinter mir hörte ich noch die empörte Stimme des Mädchens, das müde Murmeln Peters. Am Friedhofstor drehte ich mich noch einmal um. Sie saßen auf der Bank, das Mädchen da, wo ich vorher gesessen hatte, nur viel näher an Peter gerückt, und der hatte beide Arme auf der Rückenlehne abgelegt, einen hinter dem Nacken des Mädchens, so, wie ich die beiden damals auf der »Kirmes-Raupe« gesehen hatte.
    Am nächsten Morgen war ich pünktlich wie immer. Peter mit dem Kilgenstein-Grab schon fertig. Er hatte eine Trauerweide gepflanzt. Ohne mich. Matt schwangen die langen, dünnen Zweige über die Geburts- und Sterbedaten des Stammvaters. Ich wollte die Gießkanne greifen, Wasser holen, meinen Teil dazutun, zum Gedeihen dieses melancholischen Gewächses.
    Peter nahm mir die Kanne aus der Hand, stellte sie zwischen uns.
    »Hier«, er griff in die Jackentasche, richtete seinen Blick in die Weide und hielt mir ein blaues Kuvert entgegen. »Hundertsechs.
Stunden. Mal eins vierzig macht hundertachtundvierzig Mark vierzig. Kannst du nachzählen.«
    »Aber, wieso? Aber, Peter«, stammelte ich.
    Peter senkte den Kopf und schaute auf den Umschlag: »Isch kann nix dafür. Dat Annemie war bei der Mama. Un die Mama sagt: ›Wat sollen de Lück sagen!‹«
    »Und du? Was sagst du?« Ich versuchte, in Peters Augen zu sehen, einen Blick zu tun in das dem blauen Umschlag zugewandte Gesicht. Peter zog den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern und starrte auf seine Schuhe.
    »Wir hängen ja auch schon im Kästchen. Und am nächsten Sonntag von der Kanzel.«
    Ich schnappte den Umschlag und machte kehrt.
    Ich fühlte mich betrogen. Um all die einfachen Dinge fühlte ich mich betrogen: den klaren Zugriff, der das Kraut vom Unkraut trennte, den Geruch der regenschweren, der trockenen, der frischgegossenen Erde, das Hochgefühl, wenn ich ein Grab mit frischen Blumen bepflanzt hatte, als hätte ich den Tod besiegt. Um Peters kräftige, geschickte Hände. Und vielleicht auch um mehr. Um ein Leben, so einfach und klar, eindeutig wie das Festklopfen eines Setzlings.
    Nicht einmal aufgerundet hatte er den Betrag. Nicht einmal ein Zettelchen mit einem Lebewohl.
     
    »Do bis de ja schon widder!«, wunderte sich die Mutter, als ich mich kurz darauf in den Holzstall verdrücken wollte. »Wat es los?«
    »Die Gräber sind fertig.«
    »Ja, un in die Treibhäuser? Jitz, wo die Mamm vun dem Peter doch im Krankenhaus is!«
    Nicht einmal das hatte er mir gesagt. »Da ist auch alles fertig«, fauchte ich.
    Die Mutter schüttelte den Kopf. »Dä Peter«, sagte sie bestimmt, »hat ein jutes Herz. Der weiß, wat sisch jehört. Der is noch vom alten Schlag.« Sie wandte sich ab.

    Ich wusste, was sie verschwieg: Anders als du!
    Vom alten Schlag. Das höchste Lob in meiner Familie. Nur die vom alten Schlag gehörten dazu.
     
    Ich wünschte, die Trauerweide wäre nie richtig angegangen, wäre eingegangen, verkümmert. Aber sie gedieh prächtig, nahezu zügellos, und wurde jedes Frühjahr gestutzt, ob von Peter, seiner Mutter oder Frau Bender jun. habe ich nie herausgekriegt.

    Im Holzstall lag ein ansehnliches Bündel Postkarten. Wer hatte mir nicht alles geschrieben! Monika natürlich und Anke, Monika aus Dartmoor, Anke aus Italien. Eine Karte von Astrid, einfache Postkarte mit einer Reihe spitzer Zacken, die wohl ein Zeltlager darstellen sollten. Von Doris lag eine Karte aus Reit im Winkl da; ihr Robert hatte mit unterschrieben. Auch andere Klassenkameraden aus der alten und der neuen Schule ließen grüßen. Ätsch, schrien die Karten mich an: Da sitzt du in deinem Holzstall, während wir im Kleinen Walsertal, in Obermaiselstein und Menzenschwand, in Lerchenau und Epfendorf, in Schneizlreuth und Rüdesheim durchs Leben rauschen. Darüber konnte ich nur lachen. Aber eine Karte kam aus Rom. Eine aus Athen. Barcelona. Paris.
    Ich stopfte meine Brote, für die

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