Auferstehung
hatte niemals einen von ihnen zu Gesicht bekommen, hatte nie einen lokalisieren können, aber dennoch wusste er, dass sie da waren. Mindestens zwei waren es. Er konnte sie fast so leicht erkennen wie seine eigenen Leute, zu denen sie aber nicht gehörten. Ihre Auren waren seltsam. Und immer beobachteten sie ihn aus der Sicherheit der Menschenmenge, an belebten Orten, niemals dort, wo er das Gefühl mit einem Gesicht in Verbindung bringen konnte. Er fragte sich, wie lange sie ihn weiter beobachten würden und ob es dabei bliebe. Als er die U-Bahn-Station erreicht und zu den Zügen hinuntergegangen war, strich er durch seinen Mantel über die Beule seiner 9-mm-Browning. Wenigstens das war eine Beruhigung. Kein ESPer auf der Welt konnte sich aus dem Weg einer Kugel denken – jedenfalls soweit Gormley wusste ...
Am Bahnsteig standen nur wenige Leute. Im Abteil saßen noch weniger. Gormley fand eine liegen gebliebene Ausgabe der Daily Mail , mit der er sich die Zeit vertrieb. Er empfand es als leicht beunruhigend, dass die Überschriften ihm völlig nichtssagend erschienen. War er wirklich so weltfremd? Seine Arbeit hatte ihn sehr beansprucht und verschlang viel zu viel seiner Zeit; dies war der dritte Abend in Folge, an dem er bis spät gearbeitet hatte; er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal ein Buch bis zum Ende durchgelesen oder Freunde eingeladen hatte. Vielleicht war es an der Zeit, Atem zu holen und seinem Stellvertreter die Aufsicht zu überlassen. Früher oder später musste er es, weiß Gott. Er versprach sich, wirklich eine Pause zu machen ... sobald er den jungen Harry Keogh in den Verein eingeführt hatte.
Keogh ... Gormley hatte eine Menge über Keogh nachgedacht und sich einige Möglichkeiten überlegt, wie man sein Talent nutzen könnte. Fantastische Möglichkeiten. Im Moment existierten sie nur in seiner Vorstellung, trotzdem waren sie faszinierend.
Der Zug fuhr jetzt in der Station St. James ein und Gormley ließ sich von einem unglaublich hübschen Paar Beine in einem kurzen Rock ablenken, das direkt vor seinen Augen vorbei und aus den Doppeltüren hinausmarschierte. Ein Wunder, dass das hübsche Geschöpf nicht erfror, dachte er – was für ein Verlust wäre das!
Vielleicht war sein Herz etwas unzuverlässig, aber der ganze Rest schien durchaus zu funktionieren.
Er hustete, wandte sich erneut seiner Zeitung zu und versuchte, sich wieder mit der Welt vertraut zu machen. Es war ein kühner Versuch, aber bald verlor er das Interesse. Immerhin war es ziemlich banaler Stoff, verglichen mit seiner Welt, einer Welt der Wahrsager, Telepathen und nun auch eines Necroscopen.
Es gab ein Spiel, das Gormley öfter mit Kyle spielte. Ein Wortassoziationsspiel. Manchmal setzte es Kyles in die Zukunft gerichtetes Bewusstsein in Gang und öffnete ein Fenster für ihn. Ein Fenster ins Morgen. Normalerweise funktionierte Kyles Gabe unabhängig von bewussten Gedanken; gewöhnlich ›träumte‹ er seine Prophezeiungen; wenn er bewusst nach Resultaten forschte, kamen keine. Aber wenn man ihn kalt erwischte ...
Sie hatten ihr Spiel erst vor ein paar Tagen gespielt. Gormley hatte an Keogh gedacht und war in Kyles Büro geschlendert. Er hatte ihn dort sitzen sehen, gelächelt und gesagt: »Spielen wir?«
Kyle hatte verstanden. »Nur los.«
»Es ist ein Name«, hatte Gormley gewarnt.
Kyle nickte. »Ich bin so weit.« Er setzte sich auf.
Gormley ging ein Weilchen auf und ab, drehte sich dann rasch um und wandte sich dem anderen zu. »Harry Keogh!«
»Möbius!«, antwortete Kyle sofort.
»Mathematik?«, fragte Gormley stirnrunzelnd.
»Raumzeit!« Kyle wurde blass und sah ängstlich aus, und Gormley wusste, dass sie an etwas dran waren. Er unternahm einen letzten Versuch: »Necroscope!«
»Nekromant!«, schoss der andere sofort zurück.
»Was? Nekromant?«
Aber Kyle arbeitete noch. »Vampir!«, rief er dann und sprang auf. Er wankte, zitterte und schüttelte den Kopf: »Das ... das reicht, Sir. Was immer es war ... es ... es ist fort.« Das war alles gewesen.
Gormley kehrte in die Gegenwart zurück. Er schaute auf und stellte fest, dass der Zug durch Victoria Station gefahren und fast leer war. Er war bereits auf halbem Weg zum Sloane Square. Und da fühlte er plötzlich eine seltsame Niedergeschlagenheit über sich kommen. Er fühlte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, aber er konnte nicht genau feststellen, was. Vielleicht lag es nur an dem fast ausgestorbenen Zug (was selbst zu dieser
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