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Auferstehung 4. Band (German Edition)

Auferstehung 4. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 4. Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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ihm vertrauten Milieu, in seinem wahren Milieu; es schien ihm, als wäre alles, was er in der letzten Zeit erlebt und gesehen, nur ein Traum gewesen, aus dem er plötzlich erwachte.
    Außer dem General, seiner Frau, seinem Schwiegersohn und seiner Tochter war bei der Tafel ein reicher Goldminenbesitzer, ein pensionierter Bureauchef und der englische Reisende, von dem der Gouverneur am Morgen mit Nechludoff gesprochen hatte, und Nechludoff war entzückt, mit jedem dieser drei Gäste Bekanntschaft anknüpfen zu können.
    Der englische Reisende war ein rothaariger, gesunder Mann, der sehr schlecht französisch sprach, aber sehr beredt, wurde, sobald er sich auf englisch ausdrücken konnte. Er wußte sehr viel und hatte auch vielerlei gesehen; er interessierte Nechludoff ganz besonders, als er ihm von seinen Erlebnissen erzählte, die sich an Amerika, Indien, Japan und Sibirien knüpften.
    Der junge Goldminenbesitzer, ein Bauernsohn, der einen Frack nach der letzten Mode und Brillantknöpfe in seinem Hemdeinsatz trug, war ebenfalls ein reizender Mensch. Er hatte eine Leidenschaft für Bücher, opferte große Summen für wohlthätige Stiftungen und hielt sich sorgfältig über alle Fortschritte der liberalen Stimmung in Europa auf dem Laufenden. Nechludoff war entzückt, ihn kennen zu lernen. Er interessierte ihn gleichzeitig, weil er sehr angenehm plauderte und weil er ein neues und durchaus sympathisches soziales Phänomen verkörperte: das Phänomen eines glücklichen Pfropfreises der europäischen Zivilisation auf dem kräftigen Stamm der russischen Natur.
    Der pensionierte Bureauchef war ein kleiner, aufgedunsener Mensch mit spärlichen, sorgfältig frisierten Haaren, blauen, stets feuchten Augen, einem Spitzbauch und einem gutmütigen Lächeln. Er sprach wenig, und es fehlte ihm an hervorstechenden Eigenschaften, doch der Gouverneur schätzte ihn, weil er bei seinem Amte eine gewisse Rechtschaffenheit gezeigt hatte; noch mehr aber schätzte ihn die Frau des Gouverneurs, eine vorzügliche Pianistin, weil er ein ausgezeichneter Musiker war, und mit ihr vierhändig spielte, und Nechludoffs Stimmung war eine so wohlwollende, daß er sogar entzückt war, mit diesem kleinen, pensionierten Bureauchef Bekanntschaft zu machen.
    Keiner dieser drei Gäste brachte aber einen so reizenden Eindruck auf Nechludoff hervor, als das liebenswürdige junge Paar, die Tochter des Gouverneurs und ihr Gatte. Die Tochter des Gouverneurs war nicht hübsch, aber ihr Gesicht drückte eine naive Sanftmut aus. Alle ihre Gedanken auf der Welt galten nur ihren beiden Kindern. Ihr Gatte, den sie aus Liebe und sogar ein wenig gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet hatte, war ein früherer Kandidat der Universität Moskau. Bescheiden, schüchtern, aber durchaus nicht unintelligent, erholte er sich von dem eintönigen Dienste, indem er sich mit Statistik beschäftigte, und niemand war über die Bewegung der fremden Bevölkerung in Sibirien so gut unterrichtet, als er.
    Diese ganze kleine Gesellschaft empfing Nechludoff mit um so größerer Höflichkeit und Liebenswürdigkeit, als sie wirklich aufrichtig entzückt waren, ihn bei sich zu sehen, denn man hatte hier selten Gelegenheit, neuen Gesichtern zu begegnen. Der Gouverneur, der große Militäruniform mit einem weißen Kreuze auf der Brust angelegt, unterhielt sich mit ihm sogleich, wie mit einem alten Freunde. Er fragte ihn, sobald er sich gesetzt, was er seit dem Morgen gethan; doch als Nechludoff die Gelegenheit benutzte und ihm antwortete, daß er auf der Post die Begnadigung der Verurteilten erfahren, für die er sich interessierte, und dann von neuem darauf drang, sie im Gefängnis zu sprechen, zog der Gouverneur die Stirn kraus und that, als habe er nicht gehört. Offenbar sprach er beim Essen nicht gern von ernsten Geschäften.
    »Noch ein bischen Wein?« fragte er den englischen Reisenden auf französisch.
    Der Engländer hielt sein Glas hin und erzählte, er habe am Vormittag die Kathedrale und zwei Fabriken besichtigt; dann fügte er hinzu, er würde glücklich sein, auch das große Gefängnis besuchen zu können.
    »Nun, das trifft sich ja wunderbar,« rief der Gouverneur, sich zu Nechludoff wendend, »gehen Sie zusammen hin; ich werde Ihnen einen Paß ausstellen.«
    »Möchten Sie das Gefängnis nicht noch heute Abend besuchen?« fragte Nechludoff den Reisenden.
    »Ja, ich wollte Sie gerade darum bitten, das Gefängnis heute Abend in Augenschein nehmen zu dürfen,« sagte der

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