Aufruhr in Oxford
zu rösten; und die Abende, bei Lampenschein und zugezogenen Vorhängen, wenn nur das Rascheln der umgeblätterten Seiten und das sanfte Kratzen der Feder auf dem Papier in der Stille zwischen den Viertelstundenschlägen zu hören war. Dann und wann nahm Harriet sich auch die gesammelten anonymen Schmähschriften vor und sah sie durch; doch im Schein der einsamen Lampe nahm sich selbst dieses häßliche Gekritzel harmlos und unpersönlich aus, erschien ihr die ganze unschöne Angelegenheit weit weniger wichtig als die korrekte Datierung einer Erstausgabe oder die Klärung einer wissenschaftlichen Streitfrage.
In dieser melodischen Stille fand etwas zu ihr zurück, was seit ihrer unschuldsvollen Studentenzeit stumm und tot gelegen hatte. Die Stimme, vor langem erstickt vom Druck des Existenzkampfes, zum Verstummen gebracht durch die fragwürdige und unglückliche Berührung mit körperlicher Leidenschaft, begann zögernd und stockend ein paar unsichere Töne zu singen. Große goldene Sätze, aus dem Nichts aufsteigend und ins Nichts verschwimmend, tauchten aus ihrer träumenden Seele empor wie der große, träge Karpfen im kühlen Wasser des Merkursbrunnens. Eines Tages erklomm sie den Shotover Hill und schaute auf die Türme der Stadt, die aus versunkener Tiefe in der runden Schale des Flußtales heraufschlugen, unvorstellbar fern und lieblich wie die Türme der versunkenen Stadt Tir-nan-Og unter den grünen Wogen des Meeres. Sie hatte den Notizblock auf dem Schoß liegen, der ihre Anmerkungen zum Shrewsbury-Skandal enthielt; aber ihr Herz war nicht bei diesem häßlichen Geschäft. Ein einzelner Pentameter, aus dem Nirgendwo herübertönend, schlug ihr ans Ohr – acht Versfüße – eineinhalb Verse –
Hier in der stillen Mitte, wo die Welt
auf ihrer Achse schläft –
War das von ihr, oder kannte sie es von irgendwoher? Es klang ihr bekannt, doch im Herzen wußte sie mit Gewißheit, daß es von ihr selbst war und ihr nur darum so bekannt vorkam, weil es unausweichlich und richtig war.
Sie schlug ihr Notizheft auf einer neuen Seite auf und schrieb die Worte nieder. Sie kam sich vor wie dieser Mann in einer Satire in Punch : «Hübsches kleines Badezimmer, Liza – was machen wir damit?» Blankvers? … Nein … es gehörte zur Oktave eines Sonetts. Aber was sollte sich darauf reimen? Hält, Stellt? … Sie probierte an Reim und Versmaß herum wie ein ungeübter Musiker auf den Tasten eines lange nicht gespielten Instruments.
Und dann, nach vielen verkehrten Anfängen und reimlosen Versfüßen, immer wieder an den Anfang zurückkehrend, streichend und einfügend und sorgsam verbessernd, begann sie noch einmal von vorn, aber diesmal mit der inneren Gewißheit, daß sie nach langer, schwerer Wanderschaft irgendwie dahin zurückgekehrt war, wo sie hingehörte.
Hier nun, daheim …
Mitte – Nabe – Herz des Labyrinths …
Hier nun, daheim, von Sturm nicht mehr gezaust
Stehen wir – halten wir–
Hier nun, daheim, von Sturm nicht mehr gezaust
Sitzen wir still, dieweil der Abend fällt;
Rosenduft füllt das laubbedachte Zelt,
Hier wo des Lebens Strudel nicht mehr braust.
Still steht die Zeit und ruht vom Jagen aus;
Auf ihrer Bahn die Sonne innehält.
Hier in der stillen Mitte, wo die Welt
auf ihrer Achse schläft, sind wir zu Haus
Doch, damit war schon etwas anzufangen, wenn auch das Metrum noch ein wenig holprig und monoton war und die Reimendungen nicht ganz befriedigen konnten. Die Zeilen torkelten und schwankten unkontrollierbar in ihren ungeschickten Händen. Aber immerhin, sie hatte eine Oktave.
Und damit schien es auch schon zu Ende zu sein. Sie hatte den Kreis geschlossen und nichts mehr zu sagen. Ein Übergang zum Sextett fiel ihr nicht ein, kein Epigramm, kein Stimmungswechsel. Sie brachte zögernd ein paar weitere Zeilen zu Papier und strich sie wieder durch. Wenn ihr die richtige Wendung nicht von selbst einfiel, war es sinnlos, sie konstruieren zu wollen. Sie hatte ihr Bild – die schlafende Welt gleich einem ewig sich drehenden Kreisel auf seiner festen Achse – und alles, was sie da noch hinzugefügt hätte, wäre bloßes Verseschmieden gewesen. Vielleicht wurde eines Tages noch einmal etwas daraus. Fürs erste hatte sie jedenfalls ihre Stimmung zu Papier gebracht – und das ist die Erlösung, nach der es jeden Schriftsteller, auch den schlechtesten, verlangt wie die Menschen nach der Liebe; haben sie endlich gefunden, was sie suchten, dann dösen sie selig hinüber
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