Aufruhr in Oxford
und führte Harriet dann durch den langgestreckten Raum. Etwa in der Mitte saß an einem Tisch ein blondes, mageres Mädchen, umgeben von einem Stapel Nachschlagewerke. Die Dekanin blieb stehen.
«Sie noch hier, Miss Newland? Haben Sie nicht zu Mittag gegessen?»
«Ich esse später etwas, Miss Martin. Es war so heiß, und ich möchte so gern diese Arbeit hier fertig bekommen.»
Das Mädchen wirkte erschrocken und unruhig. Sie strich sich das feuchte Haar aus der Stirn. Das Weiß ihrer Augäpfel erinnerte an ein verängstigtes Pferd.
«Seien Sie doch nicht so eine Närrin», sagte die Dekanin. «Nur Arbeit und kein Vergnügen, das ist in Ihrem Prüfungstrimester einfach dumm. Wenn Sie so weitermachen, müssen wir Sie zur Kur schicken und Ihnen eine Woche lang das Arbeiten ganz verbieten. Haben Sie Kopfschmerzen? Sie sehen so aus.»
«Nicht sehr, Miss Martin.»
«Um Himmels willen!» rief die Dekanin. «Schmeißen Sie doch diesen elenden alten Ducange oder Meyer-Lübke oder was es ist, weg und gehen Sie sich amüsieren. Immerzu muß ich die Prüfungskandidatinnen zum Rudern oder aufs Land schicken», sagte sie zu Harriet. «Ich wünschte, sie wären alle wie Miss Camperdown – die war nach Ihrer Zeit hier. Sie hat Miss Pyke furchtbar aufgeregt, indem sie ihr ganzes Prüfungstrimester je zur Hälfte auf dem Fluß und auf dem Tennisplatz zugebracht hat, und dann hat sie ihren Bakkalaureus mit einer Eins gemacht.»
Miss Newland sah noch erschrockener drein als vorher.
«Ich kann mir nichts mehr merken», bekannte sie. «Ich vergesse alles und kann gar nicht mehr denken.»
«Das ist doch klar», sagte die Dekanin barsch. «Ein sicheres Zeichen dafür, daß Sie zuviel arbeiten. Hören Sie sofort damit auf. Gehen Sie jetzt, besorgen Sie sich etwas zu essen, und dann nehmen Sie sich ein schönes Buch vor oder suchen sich jemanden, der Sie ein bißchen über den Platz scheucht.»
«Bitte bemühen Sie sich nicht. Ich möchte lieber hier weitermachen. Nach Essen ist mir nicht, und an Tennis liegt mir nichts – bitte bemühen Sie sich nicht!» endete sie geradezu hysterisch.
«Na schön», sagte die Dekanin. «Meine Güte, ich mache doch hier kein Theater. Aber seien Sie vernünftig.»
«Das werde ich bestimmt, Miss Martin. Ich will nur noch diese Arbeit hier fertig machen. Ich hätte keine Ruhe, solange sie nicht fertig ist. Dann esse ich etwas und gehe zu Bett. Ich verspreche es.»
«So ist es recht», sagte die Dekanin. Sie ging weiter, und als sie die Bibliothek verließen, sagte sie zu Harriet:
«Ich sehe es gar nicht gern, wenn sie sich in so einen Zustand hineinsteigern. Wie beurteilen Sie die Chancen Ihres Pferdchens?»
«Nicht sehr gut. Ich kenne sie nämlich», sagte Harriet. «Das heißt, ich habe sie schon mal gesehen. Und zwar zuletzt auf dem Magdalen-Turm.»
«Was?» rief die Dekanin. «Großer Gott!»
Von Lord Saint-George hatte Harriet während dieser ersten vierzehn Tage des Trimesters nicht viel zu sehen bekommen. Sein Arm war aus der Schlinge, aber noch etwas schwach, was seine sportlichen Aktivitäten dämpfte, und als sie ihn schließlich sah, teilte er ihr mit, daß er arbeite. Die Sache mit dem Telegrafenmast und der Versicherung war geregelt und der väterliche Zorn abgewendet. «Onkel Peter» würde mit Sicherheit noch etwas zu dem Thema zu sagen haben, aber mit Onkel Peter konnte man, auch wenn er einem die Leviten las, Pferde stehlen. Harriet redete dem jungen Mann zu, bei seinem Arbeitseifer zu bleiben, und schlug eine Einladung zum Essen, bei dem sie «seine Leute» kennenlernen sollte, aus. Sie war nicht besonders erpicht darauf, die Denvers kennenzulernen, und hatte dies bisher auch mit Erfolg vermieden.
Mr. Pomfret war ausgesucht höflich gewesen. Er und Mr. Rogers hatten sie zu einer Ruderpartie eingeladen und auch Miss Cattermole mitgenommen. Alle hatten sich bestens benommen und den Ausflug sehr genossen, und wie auf eine stille Verabredung hin hatte niemand etwas von ihren früheren Begegnungen erwähnt. Harriet war mit Miss Cattermole recht zufrieden. Sie schien sich einen Ruck gegeben und die Trübsal abgeschüttelt zu haben, und Miss Hillyards Berichte klangen sehr ermutigend. Mr. Pomfret hatte Harriet auch zum Mittagessen und zum Tennis eingeladen; ersteres hatte sie wahrheitsgemäß damit abgelehnt, daß sie bereits eine Verabredung habe, beim Letzteren hatte sie sich schon weniger wahrheitsgemäß damit entschuldigt, daß sie seit Jahren nicht mehr gespielt habe
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