Aufstieg der Toten: Roman (German Edition)
und stierte noch immer auf die Straße hinaus.
Anna fühlte sich plötzlich von einem gewaltigen Ansturm von Pflichtgefühl überrannt. Er war so schwer und erstickend wie eine in kaltes Kerosin getauchte Wolldecke. Das Leben von Milliarden hatte in den letzten Monaten geendet, und sie, eine der Chefrechercheure dieses Problems, war nicht fähig gewesen, etwas dagegen zu tun.
Aber andererseits, dachte sie, habe ich sie gewarnt. Mehr als einmal.
So plötzlich wie es gekommen war, wich das Gewicht von ihr, und Anna hatte das Gefühl, wieder atmen zu können. Es war falsch, sich für den Ausbruch der Seuche verantwortlich zu machen. Sie hatte nichts damit zu tun. Selbst die Regierungen, die sie zu warnen versucht hatte, hatten ihr Bestes getan, als ihnen die Ernsthaftigkeit der Lage bewusst geworden war. Die Natur arbeitete eben so, und eine kleine Spezies konnte nichts tun, um sie daran zu hindern.
Es sei denn, ich finde einen Impfstoff.
Und das, wurde Anna bewusst, war der Knackpunkt. Das große Wenn. Vom Standpunkt eines Epidemiologen aus gesehen hatte die Menschheit zwei Optionen.
Erstens: Sie konnte sich irgendwo, wo sie am Leben blieb, verbarrikadieren und die Pandemie aussitzen. Wenn genügend Zeit verging, lief sich die Pandemie tot, wie jede andere zuvor. Das Problem dieser Idee war: Selbst wenn alle Überträger, auch die Watschler, gestorben waren, egal ob durch Gewalt oder puren Verfall – die ansteckenden Substanzen waren auf dem ganzen Globus verteilt.
Der Blutstropfen eines Infizierten war vielleicht in einer warmen, im Schatten liegenden Pfütze oder einer anderen natürlichen Petrischale gelandet, und das Virus existierte weiter. Morgenstern-Ausbrüche würden dann für die Menschenrasse niemals enden. Noch Generationen später würden Männer und Frauen das Virus immer und immer wieder bekämpfen müssen, so wie Anna und ihre Freunde es in der Gegenwart versuchten.
Die zweite Option bestand in der Erschaffung eines Impfstoffes. Die Dringlichkeit dieser herkulischen Aufgabe war ihr völlig bewusst und drückte sie ebenso nieder wie das schlechte Gewissen, das sie in dem Moment empfunden hatte, als sie der Meinung gewesen war, an der Pandemie mitschuldig zu sein. Wenn sie Erfolg hatte, war sie dafür verantwortlich, die Menschheit gegen den Morgenstern-Erreger zu immunisieren. Nie wieder würde ein Überträger in der Lage sein, einen Menschen zu infizieren. Die einzige Sorge, die ein Überlebender dann hatte, war die physische Bedrohung durch einen animalischen infizierten Biss, eine Kratzwunde oder ein Ableben auf andere Weise – das war zwar auch nicht erfreulich, aber doch weniger schlimm als der Gedanke einer Ansteckung.
Der Dringlichkeit wurde durch die Tatsache verdoppelt, dass sich Anna Demilios Forschungstätigkeit nie auf die Entwicklung eines Impfstoffes konzentriert hatte. Diese Aufgabe war der Deucalion Co-op übertragen worden, die Unmengen an Versuchen durchgeführt hatte. Angesichts der gegenwärtigen Weltlage war es Anna durchaus klar, dass diese Leute zu keinem Ergebnis gekommen waren. Aber vielleicht hatten sie Fortschritte gemacht.
Sie rechnete fest damit, dass sie Fortschritte gemacht hatten, und zwar etliche. Anna hoffte, dass der größte Teil der Arbeit längst erledigt war: die RNS -Abläufe, die Genomermittlungen, Blut-und Serumtests. Damit ein Impfstoff funktionierte, musste sie herausbekommen, wie man die virulenten Eigenschaften des Morgenstern-Erregers blockierte. Aus der Lektüre der regelmäßigen Aktualisierungen, die zwischen dem USAMRIID , der CDC und Deucalion zirkulierten, wusste sie, dass der erste Versuch, einen Impfstoff zu finden – die Verwendung toter Morgenstern-Erregerzellen, ungefähr wie eine Grippeimpfung – nicht die geringste Wirkung gezeigt hatte. Das menschliche Immunsystem hatte die toten Viren natürlich angegriffen, doch die Injektionen hatten keine Immunität aufgebaut.
Ein besserer Wurf war ihr Versuch, einen Impfstoff zu erschaffen, der ein lebendes Virus verwendete. Es war riskanter, hatte aber höhere Erfolgschancen. Dort lag das Problem im menschlichen Immunsystem. Milliarden Fälle auf der ganzen Welt hatten besser als jedes Labor bewiesen, dass das menschliche Immunsystem das Morgenstern-Virus nicht abwehren und deswegen auch keine Immunität gegen es aufbauen konnte.
Entweder fand sie eine Möglichkeit, das Immunsystem zu stärken, oder sie machte jemanden ausfindig, dessen Körper auf natürliche Weise immun war, und
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