Auge des Mondes
Ich will dir etwas zeigen.«
Er ging voraus und stieß ein Tor zu einem weiteren Hof auf. Mina bot sich ein Bild unerwarteter Idylle. Mindestens drei Dutzend Katzen, wenn nicht sogar mehr, in den verschiedensten Farben und Größen. Einige lagen faul in der Sonne, andere hatten es sich in dem Halbschatten gemütlich gemacht, den ihnen das Laubdach zweier großer Sykomoren spendete. Zahlreiche Wasserschälchen waren gut gefüllt, an ein paar Schnüren hingen zerfetzte Läppchen. Jetzt aber schienen alle zu müde zum Spielen und Toben. Ruhe war angesagt, tiefe, friedvolle Ruhe.
»Große Raubtierfütterung ist kurz nach Sonnenuntergang«, sagte Senmut. »Dann sind sie alle wieder munter und kaum wiederzuerkennen. Diese Lieblinge der Bastet müssen nicht mausen, um zu überleben, wie ihre Schwestern und Brüder jenseits der Tempelmauern.«
Die Weiße mit den goldenen Augen, soeben noch mit halb geschlossenen Lidern auf einer Mauer dösend, verließ mit einem eleganten Satz ihren Ruheplatz. Majestätisch kam sie näher, rieb sich kurz an Senmuts schlanker Wade. Ein Ohr zuckte ganz leicht, als er sich neben sie auf den Boden kniete und sie zu streicheln begann. Ein Vibrieren ging durch ihren Körper, dann setzte das Schnurren ein, so genüsslich und durchdringend, dass Mina es nicht überhören konnte.
»Die Weiße scheint deine Favoritin zu sein«, sagte sie, angerührt von der liebevollen Szene zwischen Mensch und Tier, die sich dabei nicht einmal von einer Fremden stören ließen. »Werden die anderen da nicht manchmal eifersüchtig?«
»Für mich gibt es nur eine Einzige .« Geschmeidig hatte Senmut sich wieder erhoben. »›Ich schenke alles Leben, wie Re‹. So und nicht anders lauten ihre Worte.«
Ein junger, fülliger Priester trat zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Fast im gleichen Augenblick setzte das Schlagen der Hämmer wieder ein, diesmal um einiges lauter, wie Mina unwillkürlich registrierte.
»Steinmetze«, sagte Senmut und schien wieder ganz der Alte. »Nicht zu überhören.« Eine kleine, anmutige Geste. Er bewegt sich wie ein Tänzer, dachte Mina. Wie jemand, der in vollständiger Harmonie mit seinem Körper ist. »Sie erschaffen so viel Schönes, machen aber leider großen Lärm dabei. Du entschuldigst mich, Mina? Offenbar brauchen sie meine Entscheidung, damit sie ihr Werk vollenden können.«
Er hatte recht behalten mit seiner Forderung, die Bildhauer für die neue Statue aus dem südlichsten Gau kommen zu lassen, mochte der Weg auch noch so weit, mochten die Reisekosten noch so erheblich sein. Nur in den fremdartigen, dunklen Männern aus Elephantine war noch die Erinnerung lebendig an jene gewaltige Herrscherin jenseits der Katarakte, der einst die Schwarzen Könige geopfert und gedient hatten.
Senmut trat ein paar Schritte zurück. Ein Steinmetz musterte ihn schweigend, voller Anspannung.
Die Mächtige war sitzend dargestellt, mit einem schönen, schlanken Frauenleib, der ihr alle Ehre machte und mit einem eng anliegenden, knöchellangen Kleid bedeckt war. Die breiten Träger waren rosenverziert. Beide Hände lagen auf den Oberschenkeln, die rechte flach ausgestreckt, die linke zur Faust geschlossen, in der sie ein Anch-Zeichen hielt.
»Bist du zufrieden?« Der bullige Steinmetz versuchte vergeblich, in den glatten Zügen des Priesters zu lesen. »Ist es das, was du wolltest?«
»Das und noch viel mehr! Sieht aus, als hättet ihr alle Vorgaben erfüllt, soweit sich das bis zum jetzigen Zeitpunkt beurteilen lässt«, sagte Senmut. »Das ist sehr gut. Allerdings …«
»Allerdings?«, wiederholte der Steinmetz. »Wenn dir etwas missfällt, dann sag es ruhig! Noch ist genügend Zeit, um einiges zu ändern.«
»Ich wünschte, sie hätte Tatzen und keine Frauenhände.«
»Mir ist keine derartige Statue bekannt.«
»Das ist es ja eben! Sachmet ist die Zürnende, deren glühender Atem alles Schlechte wegbrennt wie die unbarmherzige Wüstensonne.« Senmut sprach leise, aber voller Inbrunst. »Nicht nur sie hat Feuer, sondern auch wir, das werden sie lernen müssen! Ihre sieben Pfeile fürchtet man diesseits und jenseits der Katarakte; sie ist die Mutter des Pharaos, größte und mächtigste aller Zauberinnen. Glaubst du nicht auch, einer solchen Göttin würden Pranken besser anstehen als zierliche Menschenfinger?«
Der Steinmetz begann heftig zu schwitzen.
»Das hieße ja, noch einmal von Neuem beginnen«, sagte er. »Schwarzer Granit verzeiht nichts - gar nichts, das musst du
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