Auge des Mondes
Geduld gehört nämlich nicht zu meinen vorrangigsten Tugenden, musst du wissen!«
Der Schwanz zuckte heftiger.
»Gute Idee? Dachte ich mir.« Minas Stimme veränderte sich. »Ich dachte, er wäre erfreuter, mich zu sehen«, sagte sie. »Nicht einmal besonders überrascht ist er mir vorgekommen, als habe er insgeheim damit gerechnet, dass ich komme. Und geradezu überschwänglich hat er seine Hilfe auch nicht angeboten. Aber dieser Numi« - noch lag der Name fremd auf ihrer Zunge - »ist die einzige Möglichkeit, die wir zurzeit haben, deshalb bleibt uns keine andere Wahl.«
Bastet rollte sich zur Seite, schien halb am Wegdösen.
»Ob er das mit seiner Entschuldigung ernst gemeint hat? Oder war es nichts als dummes Gerede, wie Männer es eben so machen?«
Die Katze schien jetzt zu schlafen. Nur das linke Ohr zuckte, ein feiner Sensor, der jedes Wispern empfangen konnte.
»Alles verstanden.« Leicht schwindelig geworden, richtete Mina sich wieder auf. »Du zeigst es mir auf deine unmissverständliche Art und Weise. Natürlich geht es mal wieder um Geduld, willst du wohl sagen, habe ich recht?« Sie seufzte. »Genau das, was mir am allerschwersten fällt.«
vier
Sie brach auf, bevor es dämmerte, und das nicht nur, weil es wieder ein sehr heißer Tag zu werden versprach, sondern auch, um wenigstens eine Weile ungestört bei Chai zu sein, bevor andere die Nekropole besuchten. In einen Korb hatte sie Blumen, Brot und Bier sowie einige knusprig gebratene Entenschenkel gelegt, die Iset ihr für ihren toten Liebling aufgedrängt hatte. Anfangs waren sie sogar ein paarmal miteinander an sein Grab gegangen, was Mina allerdings bald wieder aufgegeben hatte, weil sie das übertriebene Jammern und Klagen, in das die alte Amme stets ausbrach, nur schwer ertragen konnte.
Sie zog es vor, auf eigene Art um Chai zu trauern. Zunächst war sie meist schweigend vor dem kleinen Hügel aus Sand und Geröll gestanden und hatte lediglich ihr Herz sprechen lassen. Erst im Laufe der Jahre hatte sie damit begonnen, eine Art halblaute Zwiesprache mit ihm zu halten. Chai war tot, das vergaß sie niemals dabei, aber sein Leichnam war nach den uralten Regeln so präpariert worden, dass sein Geist weiterleben konnte. Dieses kleine private Ritual gab ihr das Gefühl, ihn in gewisser Weise noch immer an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Außerdem war es eine gute Gelegenheit, sich beim Reden über manche Dinge klarer zu werden. Und ab und zu konnte es sogar vorkommen, dass sie beinahe sicher war, so etwas wie eine stumme Antwort von ihm zu erhalten.
Als sie nun immer weiter nach Westen gelangte, wurden die Häuser niedriger und die Straßen schlechter. Hier lebten die Armen der Stadt in meist ebenerdigen, rasch errichteten Bauten aus getrockneten Nilschlammziegeln, von denen viele schon wieder am Bröckeln waren. Unrat lag herum, und obwohl Ra seine Nachtfahrt kaum beendet hatte, stank es bestialisch.
Sie schrak zusammen, als schrilles Katzengezeter erklang. Zwei räudige, ausgemergelte Wesen, denen das Fell um die Rippen schlackerte wie ein zu weit gewordener Mantel, zankten sich um die Überreste eines Vogelkadavers. Das hellere Weibchen trug schließlich den Sieg davon und rannte mit baumelndem Gesäuge davon, während der dunkel gestromte Kater sitzen blieb und Mina mit dem einen Auge, das ihm noch verblieben war, anstarrte. Sein Hals war so dünn, dass der Kopf übergroß wirkte. Wahrscheinlich war er einst ein schönes Tier gewesen; jetzt hatten Hunger und harte Kämpfe ihn schwer gezeichnet. Die Schwanzspitze fehlte, die rechte Vorderpfote war verkrüppelt, die Ohren zeigten zahlreiche Bisse und Narben.
Mina zögerte einen Augenblick, griff schließlich in ihren Korb, packte einen von Isets gebratenen Entenschenkeln und warf ihn ihm zu. Verdutzt verharrte er zunächst regungslos. Dann stürzte er sich mit einem Satz auf das unerwartete Fressen, begann zu schlingen und hatte die Welt um sich herum vergessen. Offenbar durch den köstlichen Geruch angezogen, hatte sich auch das Weibchen erneut lautlos angepirscht. Mina gönnte ihr ebenfalls einen Schenkel, den die Katze ins Maul nahm und blitzschnell wegtrug.
Mina behielt diese Bilder im Sinn, als sie die Nekropole erreicht hatte. Ob Bastet auch so hungrig war, bevor sie zu ihr gekommen war? Mina beschloss, sie noch üppiger als bisher zu verwöhnen. Ihrem kleinen Liebling sollte es nun an nichts mehr fehlen.
Ihrem kleinen Liebling - sie musste über sich selber lächeln, während
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