Auge des Mondes
Geschichte beendet, um zu ihr zu laufen und sie zu trösten - aber welchen Trost konnte es schon geben für einen blutjungen Enkel, den man absichtlich im Korn hatte ertrinken lassen?
Mina redete weiter, eigentlich nur noch für die Trauernde, erzählte von der furchtlosen Maus, die dem Löwen eines Tages über den Weg lief, zierlich von Aussehen und winzig an Gestalt. Natürlich wollte er sie sofort auffressen. Die Maus aber unterbreitete ihm einen erstaunlichen Vorschlag.
» ›Wenn du mir mein Leben als Geschenk gibst, werde ich auch dir eines Tages dein Leben schenken.‹
›Wie willst du das anstellen? Du bist so klein und hilflos, ich dagegen so groß und mächtig. Gibt es denn einen auf Erden, der es mit mir aufnehmen könnte?‹
Da schwor sie einen Eid, dass er eines Tages allein durch ihre Hilfe seinem Schicksal entgehen werde. Der Löwe lachte - und ließ sie laufen.«
Das Schluchzen war verstummt. Benias Großmutter hatte ihren Kopf gehoben und sah Mina aufmerksam an.
» Lange Zeit verstrich . Es gab da aber in Kemet einen Jäger, der Fallen stellte und eine Fanggrube für den Löwen aushob. Der Löwe übersah die Grube, fiel hinein - und war plötzlich in der Hand der Menschen. Man steckte ihn in ein Netz, fesselte ihn und band ihn mit Riemen. Danach brachte man ihn fort.
Als er nun traurig in seinen Fesseln lag, kam auf einmal die Maus zu ihm.
›Erkennst du mich wieder? Ich bin die kleine Maus, der du das Leben geschenkt hast. Und heute bin ich hier, um dir deines zu schenken.‹
Sie begann zu nagen, durchtrennte alle Fesseln und Riemen und zuletzt noch das Netz. Danach versteckte sich die Maus in der Mähne des Löwen, und er machte sich mit ihr auf, zurück in die Wüste …«
Der Beifall war lange und herzlich, und die Zuhörerinnen begannen freudig zu spenden. Mina jedoch hatte kaum einen Blick für die verschiedenen Gaben. Endlich konnte sie sich der alten Frau zuwenden.
»Es tut mir unendlich leid, was geschehen ist«, sagte sie, »das musst du wissen …« Sie hielt inne. »Wie heißt du eigentlich? Ich weiß nicht einmal deinen Namen!«
»Mehet. Und zunächst dachte ich sogar, du hättest etwas damit zu tun.«
»Da irrst du dich, Mehet«, sagte Mina. »Ich weiß von nichts - leider.«
»Das habe ich inzwischen auch begriffen. Aber Trauer kann einen schier um den Verstand bringen. Plötzlich hält man alles, was um einen herum geschieht, für eine Art von Verschwörung, sieht Feinde, wo gar keine sind. Er fehlt mir so sehr! Mein Benia hatte doch alles noch vor sich, beinahe das ganze Leben. Jetzt werde ich niemals meine Urenkelchen auf den Knien schaukeln können!« Sie sah aus, als würde sie gleich wieder weinen.
»Ich konnte ihn nicht mehr sprechen«, sagte Mina. »Ich war dort, aber ich bin leider zu spät gekommen. Benia war bereits tot, als ich zu dem Speicher kam.«
»Wie er gelitten haben muss!«, sagte Mehet. »Mein armer, armer Junge! Was hattest du eigentlich mit ihm zu reden?«
»Sieht ganz so aus, als sei dein Enkel ein ausnehmend guter Beobachter gewesen«, sagte Mina.
»Weshalb?« Mehets Misstrauen saß offenbar noch immer tief.
Mina zog sie ein Stück zur Seite.
»Meine Katze ist seit ein paar Tagen nicht wiederzuerkennen«, sagte sie. »Verkriecht sich, lässt sich nicht streicheln, frisst nur, wenn sie allein ist.«
»Vielleicht ist sie ja trächtig. Dann werden sie manchmal wunderlich.«
»Vielleicht hatte man sie aber gefangen wie so manche andere auch, und sie konnte gerade noch einmal entkommen«, sagte Mina. »Wie gefällt dir diese Version?«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil der Rest eines zerfetzten Stricks an ihrer Pfote hängt«, sagte Mina. »Den sie sich ja sicherlich nicht selber angelegt hat. Nicht einmal mich lässt sie ihn berühren.«
»Dann sieh dich nur vor, wenn du solche Dinge in der Öffentlichkeit äußerst!« Mehet schaute sich ängstlich um, doch die anderen Frauen hatten sich bereits zerstreut. Es war weit und breit niemand zu sehen, der sie hätte belauschen wollen. »Wenn sie Benia beseitigt haben, könnten sie es auch ebenso gut mit dir tun.«
»Hast du nicht gerade das Ende meines Märchens gehört? Die Geschichte der kleinen Maus, die schließlich den mächtigen Löwen gerettet hat?«
»Natürlich. Aber was soll das …«
»Die Stunde der Maus wird kommen«, sagte Mina.
»Umso schneller und gewisser, je mehr Katzen hier in Per-Bastet verschwinden!«
Jetzt, wo Himmel und Erde allmählich die Glut verloren, machten sie
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