Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
gesagt. Aber was hieß das denn genau?
»Eines Tages wird die Wissenschaft so weit sein, dass Sie wieder sehen können«, meinte der Arzt und verließ dann schnell das Zimmer. Ein Loch in meiner rechten Netzhaut … Wenn ich schon auf dem linken Auge nie mehr würde sehen können, dann sollten sie doch wenigstens mein rechtes Auge retten. Es hieß, in dieser Klinik seien die besten Augenärzte – aber diesen Eindruck konnten sie mir mit ihrer Ratlosigkeit leider nicht vermitteln.
Gott im Himmel, willst du wirklich, dass ich erblinde? Das kannst du doch nicht wollen? Was hab ich denn getan? Worin besteht mein Verbrechen? Wozu sind Tränen da? Hatte nicht Herr Fatawi mich einmal gefragt, warum ich nicht weinte? Weil Tränen mir nicht helfen, meine Probleme zu lösen, hatte ich ihm damals geantwortet. Und nun konnte ich sie nicht mehr zurückhalten. Bittere, blutige Tränen. Mein Gott, womit …
»Hab Geduld, Ameneh!« Da war diese Stimme wieder.
»Du darfst nicht verzweifeln, Ameneh. Eines Tages kehrt alles zu dir zurück. Der Weg ist steinig, du wirst ihn alleine gehen müssen, wirst alles hinter dir lassen, dich sogar von Gott abwenden. Doch wenn du Geduld hast, kehrt alles zu dir zurück.«
Geduld? Woher sollte ich die nehmen? Ich hatte doch noch so viel vor! Studieren, arbeiten, Geld verdienen, den Führerschein machen, ein Auto kaufen – leben. Es durfte doch nicht alles dahin sein. Es musste einfach alles wieder gut werden! Es musste! Unbedingt!
Hätte ich Amir mitsamt seiner Rauschgiftsucht heiraten sollen, damit sein Herz nicht zum zweiten Mal bricht? Oder meinen Dozenten, der mich eigens schlecht benotet hatte, um mich in seine Sprechstunde zu locken? Hätte ich Madschid heiraten sollen, dieses Tier, nur um mir meine Gesundheit zu bewahren? Hätte ich all diese Männer nicht ablehnen dürfen? Bestand vielleicht in all dem meine Schuld?
Ich wusste beim besten Willen nicht, warum Gott mich so hart auf die Probe stellte. Es wäre an der Zeit gewesen, nach all diesen Strafen einen besseren Weg für mich zu finden. Er hätte mir dabei helfen können, die Mittel für meine Heilung aufzubringen. Schließlich ging es nicht nur um mein Augenlicht. Die Säure hatte mir das ganze Gesicht zerfressen, mein Ohr, meine Nase, die Lippen, meine Zähne, mein Kinn. Auch meine Hand, meine Finger. Die Speiseröhre, den Magen, die Leber und die Nieren … Wie viele hässliche Narben dieses Teufelszeug noch hinterlassen würde, mochte ich mir gar nicht ausmalen. Wie viele Operationen wären wohl nötig, mich zumindest so weit wiederherzustellen, dass mein Anblick meine Mitmenschen nicht jedes Mal bis ins Mark erschütterte? Eine, zwei –
zehn, fünfzig? Würde es Monate oder gar Jahre dauern?
Bevor an Operationen überhaupt zu denken war, mussten die Verätzungen heilen. Die Schwefelsäure, die Madschid mir in seiner blinden Wut ins Gesicht geschleudert hatte, konnte unter Umständen noch lange ihr Teufelswerk treiben. Bis zu fünf Jahre nach dem Angriff würde sie mich noch zerfressen, sagten mir die Ärzte. Fünf lange Jahre! Wie sollte ich die denn überhaupt durchstehen?
Alle bemühten sich nach Kräften, mir Mut zu machen. Ihr Optimismus half mir sehr über meine Verzweiflung hinweg – manchmal zumindest. Frau Dr. Yassa kümmerte sich besonders intensiv um mich. Sie hörte mir zu, munterte mich auf und brachte mir manchmal sogar Kuchen mit. Auch knapp zwei Wochen nach dem Ereignis kamen noch immer viele Besucher an mein Krankenbett. Meiner Seele taten diese Besuche gut – meinem Körper schadeten sie. Das Infektionsrisiko war eigentlich viel zu hoch. Ich war gezwungen, nur noch den engsten Kreis meiner Familie und Verwandten an mich heranzulassen.
Madschids Eltern bedrängten meine Eltern. Sie wollten mich unbedingt sehen. Diese Vorstellung schockierte mich zutiefst. Was wollte diese Mutter, die doch so viel Mitschuld an meinem Unglück hatte, jetzt noch von mir? Konnte ich überhaupt sicher sein, dass sie sich nicht schon in den ersten Tagen nach meiner Einlieferung in das Krankenhaus geschmuggelt hatten? Um mich anzugaffen, wie damals auf der Straße, als mich diese merkwürdige Frau im Tschador so hinterhältig nach dem Weg gefragt hatte? Diese Menschen wollte ich hier nicht sehen, das stand fest. Ich musste mich jetzt ganz auf mich konzentrieren, um wieder gesund zu werden. Dabei durfte mich nichts – und schon gar nicht die Familie dieses widerwärtigen Typen – aus der Bahn werfen.
Die Ärzte hatten mir
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