Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
zweimal durch die halbe Stadt gefahren haben. Darum komme ich so spät. Aber warum diese Frage? Ist es vielleicht schon zu spät?
Es tut mir schrecklich leid, dass ich diese tragische Diagnose stellen muss, Frau Bahrami, aber die Säure hat sich das linke Auge schon fast vollständig genommen.
Nein! Herr im Himmel, nein! Mach, dass das nicht wahr ist! Das darf einfach nicht sein! Sag mir, Herr, dass es nicht wahr ist! Großer Gott, steh mir bei!
Der Arzt spricht weiter. Seine Worte sind für mich kaum mehr als leere Hülsen. Er spricht meine Sprache, ja, aber eigentlich will ich ihn gar nicht verstehen. Alles, was er mir sagt, wird mich zerstören. Wird mir meine Kraft und vielleicht auch mein Leben nehmen.
Für das rechte Auge gäbe es vielleicht noch Hoffnung? Welche Hoffnung? Man müsse abwarten, wie die Säure sich verhalte. Abwarten? Ich habe doch keine Zeit! Die Säure frisst sich satt an mir. Wie lange soll ich das denn noch ertragen, ohne den Verstand zu verlieren? Wie lange?
Ich will hier nicht verenden! Ich will wieder auf die Beine kommen! Ich will hier wieder raus! Ich will mein Leben weiterleben, aber ich brauche dringend Hilfe. Es muss doch ein Medikament gegen diese Säure geben. Spritzen, Tabletten, Salben, was auch immer. Irgendeine Medizin muss es doch geben …
In einem Monat sind meine Klausuren, und die will ich mitschreiben. Die muss ich mitschreiben. Bis dahin muss ich wieder gesund sein. Gebt mir doch endlich das Gegenmittel …
Ich habe geschlafen. Die Schwester sagt jetzt, es sei bereits Morgen. Der Tag danach also – und ich lebe noch! Die Schmerzen haben mich nicht kleingekriegt! Man erzählt mir, dass meine Geschichte Schlagzeilen gemacht habe. »Ameneh schrie: Hilfe, ich verbrenne!« Hamschahri, Dscham-e Dscham, Vatan-e Emruz, alle haben das Säureattentat – das Assid-Paschi – auf der Titelseite.
Ich wäre eines Tages gerne einmal in die Zeitungen gekommen. Mit einer bahnbrechenden Entwicklung oder einem Forschungspreis. Ja, das wäre schön gewesen. Aber nun war ich ein Kriminalfall – eine Sensationsgeschichte. Woher hatten die Medien diese Informationen? Wahrscheinlich hatte der Polizist die Presse informiert, der mich noch am Tatort befragt hatte. Hatte es nicht vor Jahren ein ähnliches Attentat auf eine junge Frau gegeben, die ebenfalls einen Bewerber abgewiesen hatte? Auch er hatte sich mit Säure an ihr gerächt. Und wenn mich nicht alles täuschte, wurde er doch für diese Tat gehängt?
Ob sie Madschid inzwischen gefasst haben? Oder hat er sich gar gestellt? Ich muss es wissen. Oh Gott, ich muss das wissen. Was, wenn er noch einmal wiederkommt? Ich kann doch nichts sehen. Ich würde es doch gar nicht bemerken, wenn er plötzlich in meinem Krankenzimmer stünde.
Mit meinem rechten Auge kann ich inzwischen wieder Umrisse wahrnehmen, kann Schlagzeilen lesen, aber mich selbst kann ich auf dem Foto, das sie in aller Eile gemacht hatten, nicht erkennen. Ich sehe ein schwarzes Gesicht, von einem weißen Kopftuch umrahmt. Gütiger Herr, bin das ich? Ist das Ameneh Bahrami?
Aber vielleicht würde doch nicht alles so schlimm enden. Immerhin konnte ich mit meinem rechten Auge schon wieder ein wenig sehen. Das linke würde sich auch wieder erholen. Anders kann es gar nicht sein. Ich bin doch gerade erst sechsundzwanzig geworden. Ich habe noch so vieles vor im Leben. Mein Bruder Mohammad hat die ganze letzte Nacht an meinem Bett gesessen, obwohl es ihm selbst nicht gut geht. So gern ich ihn um mich habe, er muss auch an sich denken, sich schonen nach seinem schlimmen Unfall. Und wie viel Besuch ich schon bekomme! Manchmal wird es mir fast zu viel. Freunde, Verwandte, Bekannte – auch Kollegen waren schon hier, Hassan, Mahdi, Azam, Mariam, Mansureh ... Alle haben sie mir gute Besserung gewünscht und mich auf andere Gedanken gebracht.
Sogar Herr Fatawi war hier. Ich bin so froh, dass es Menschen wie ihn gibt. Er hat angeboten, uns finanziell zu helfen. Aber warum seufzen alle so entsetzt auf, wenn sie mich sehen? Auch Herrn Fatawi schien mein Anblick nur schwer erträglich. Und Mardschan? Sie darf auf keinen Fall erfahren, was mit mir passiert ist! Sonst erleidet sie am Ende eine Fehlgeburt! Ja, Mardschan, siehst du, so schnell ändern sich die Zeiten. Nun bist du verheiratet, erwartest dein erstes Kind. Und ich?
Ein Kollege meinte heute sogar: »Du hättest heiraten sollen, Ameneh.«
»Was?!«, haben die anderen nur entrüstet geschnaubt. »Heiraten, damit sie unversehrt
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