Auge um Auge - Moonbow #1 (German Edition)
musste aufstehen, zum Fluss. »Danke.«
»Bitte, bitte.«
»Wie heißen Sie?«
»Was sind schon Namen?«
View musste lächeln und hörte, wie auch Zac durch die Nase ausatmete, während er stumm lachte. »Stimmt. Wie darf ich dich denn nennen?« Das Du schien ihr angebrachter angesichts ihrer Situation.
»Früher wollte ich Abby heißen.« Sie seufzte und hustete.
»Abby. Das klingt schön. Vielen Dank, Abby, dass du mich gerettet und versorgt hast.«
»Sie hat dich wie ein Stück toter Tierkadaver durch den halben Wald geschleift, an den Fußgelenken gepackt. Sie hat dich weder gewaschen noch dir genug zu essen und …«
»Du denn?«, fragte sie sanft in sein gehauchtes Gezeter hinein. Zac verstummte.
»Ja, ja«, murmelte Abby und wühlte in einigen Stoffen. Sie schien geistig wirklich nicht mehr auf der Höhe zu sein.
»Würdest du mich zum Fluss begleiten, Abby?« Durst und ein stärker werdendes Ekelgefühl trieben sie dazu, sich wieder aufzurichten.
»Ist das nicht zu früh?«, fragte Zac.
»Okay, okay«, sagte Abby.
View hörte, wie ihre Gewänder an den Ästen entlangstreiften. Sie verließ den Unterschlupf. Rasch setzte sie die Füße auf, sie hatte etwas erhöht gelegen. Schwindel wollte sie zurück auf das Lager zwingen, doch sie musste stärker sein und schaffte es. Sie ließ sich nieder und krabbelte auf allen vieren den sich entfernenden Schlurfgeräuschen hinterher. »Zac, du bleibst hier. Ich will mich auch waschen.«
»Okay«, brummte er. »Aber lass dich nicht von den Laborleuten erwischen.«
»Ich beeile mich.«
Eine frische Brise fuhr ihr über die feuchte Stirn und den verschwitzten Nacken. Sie richtete sich an einem Baumstamm auf und folgte Abby mit wackligen Schritten. Zum Glück schlurfte sie nur langsam voran. Ein regelmäßiges Klacken fiel ihr auf und es dauerte nicht lang, da wusste sie, was es bedeutete. »Abby«, setzte sie vorsichtig an, »kannst du nichts mehr sehen?«
»Kluges Kind.«
Kurz haderte View mit sich. Es war unhöflich, weiterzufragen, aber gerade bei diesem Thema … »Schon lange?«
»Es kommt mir lange vor.«
View vernahm das Rauschen des Flusses durch das Rascheln der Blätter hindurch. »Wie meinst du das?«
»Ach, Kind …«
View schämte sich, gefragt zu haben. Die arme, alte Frau. Ganz allein und blind im Wald zu hausen. Sicher würde sie bald sterben. Tränen traten ihr in die Augen und sie fröstelte. Warum half Abby denn niemand? Familie oder Freunde? Wenn sie ihr nur helfen könnte.
Sie ließ sich am Ufer auf die Knie sinken und schöpfte kaltes Wasser. Das schmeckte und tat so gut. Ihre pelzige, geschwollene Zunge ließ sich wieder vom Gaumen lösen und die Schwellung ging spürbar zurück. »Ich geh mich waschen.«
»Okay, okay. Ich mach ein Feuer«, sagte Abby.
Schon roch sie kokelndes Laub und Holz. Rasch und zitternd zog sie sich aus, hängte die Sachen über einen Zweig und tastete sich mit den Füßen voran in den Fluss. Vor Schock klapperten ihre Zähne unkontrolliert aufeinander. »Kalt, kalt, kalt«, keuchte sie im Takt ihrer bebenden Hände, die ihren Körper rasch abrieben. Unterzutauchen schaffte sie dann doch nicht.
Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, um ans Ufer zu gelangen, obwohl sie am liebsten gesprungen wäre. Ihre Haut prickelte schmerzhaft.
»Hand«, sagte Abby.
View streckte sie vor und nach einigem Tasten fühlte sie Abbys raue, schwielige Handfläche. Sie zog sie zum Feuer, das knackte und prasselte. Viel zu klein. Am liebsten hätte sie sich hineingesetzt. Abby schüttelte ihre Kleidung aus, gab ihr aber zuerst ein Stück Stoff zum Abtrocknen. Von der Form her war es eine Socke mit unendlich vielen Löchern. So schnell es ihre zitternden Glieder ermöglichten, schlüpfte sie in ihre Kleidung und hüpfte nah am Feuer auf und ab, um ihre Blutzirkulation in Schwung zu bringen.
»Einst waren wir eine große Familie«, sinnierte Abby. »Etwas weiter unten am Fluss. Fünf Hütten, vierzehn gottesfürchtige Menschen, davon fünf Kinder.« Sie hustete. »Viele Jahre des Friedens, bis …«
View rubbelte über ihre Arme. »Bis, was? Abby, sprich bitte weiter.«
»Ein paar von uns erblindeten. Es verlief unterschiedlich … Ach, wir konnten nicht hierbleiben. Alle gingen.«
Konnte es Zufall sein, dass der erste Mensch, auf den sie traf, erblindet war? Ein ganzes Dorf? Sie raubte Menschen das Augenlicht, aber sie war doch … View schluckte hart, aber an sich wollte sie nun am allerwenigsten
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