Augen für den Fuchs
Ripper, Rostov ohne Tschikatilo, Hannover ohne Haarmann. Leipzigs berühmtester Mörder hieß Woyzeck, und ohne das Drama Georg Büchners würde sich heute keiner an ihn erinnern. Und jetzt war Miersch auf einen Augensammler gestoßen und ein Haus der toten Augen. Von dieser Mordserie hatte ihm noch niemand erzählt. Der Fall würde ihn nicht mehr loslassen, das wusste Miersch. Hajo ist kein Mörder! Er würde Anne die Beweise für die Unschuld ihres Vaters bringen. So es sie gäbe, würde er sie finden.
»Stör ich?«
Miersch schreckte hoch, als sich Brigitte Rademachers Kopf von hinten über ihn beugte.
»Ich hatte gedacht, wir setzen uns auf den Freisitz hinterm Lokal, damit Sie nicht von allen gesehen werden.«
Die Archivarin zwinkerte in Richtung der Biederstedt, Bild, und nahm seinen Kaffeepott. Miersch folgte ihr den verwinkelten Weg zu den Stühlen im Freien, die man vom Gastraum aus gar nicht sah. Brigitte Rademacher hatte bereits einen Kakao bestellt. Er dampfte verlassen auf einem der Tische. Unter Sonnenschirmen saß man hier losgelöst von der Hektik der Straße fast im Grünen. Miersch hoffte, dass die Biederstedt, Bild, keine Zeit hatte, ihm hierher zu folgen. Sein Kaffee machte Flecken aufs Tischtuch, als ihn die Rademacher vor ihm abstellte. Dann wühlte sie in ihrer Tasche auf dem Stuhl neben sich und förderte eine zerfledderte Akte aus deren Tiefen.
»Nur die Hauptakte«, sagte sie entschuldigend. »Zu jeder einzelnen Spur wollte ich die Papiere nicht mitbringen. Es sind einige Regalmeter, die den Fall betreffen.«
Miersch war sich nicht sicher, was er fühlte, als er nach dem Ordner griff. Ehrfurcht traf die Empfindung vielleicht am ehesten. Vor ihm lag die Familientragödie von Anne und Rosel Popp. Wahrscheinlich handelte er entgegen ihren Wünschen, wenn er den Mord wieder aufrollte. Die Fakten, die er hier zu lesen bekommen würde, berührten das Intimste aus ihrer Familiengeschichte. Zumal bei einem Sexualmord. Aber Mein Hajo hat sie nicht getötet, hatte die Rosel geschrien. Miersch öffnete die Akte.
Am 12. März 1984 teilt das VPP Machern um 22.05 Uhr telefonisch – HWM Schwarzenbeck – folgendes mit: Am Montag, den 12. März 1984 gegen 20.00 Uhr wurde die Boestrop, Astrid Meta, geb. am 4. Oktober 1961 in Potsdam, Beruf: Textilfacharbeiterin, wohnh. in Wittstock, Ernst-Thälmann-Platz 5 (Angaben laut vorgefundenem Personalausweis), im Macherner Hotel Zu den alten Eichen im Zimmer 12 nackt auf dem Bette liegend tot aufgefunden. Wie die Ermittlungen ergeben haben, wurde an der Boestrop ein Sexualverbrechen begangen …
»Darf ich fragen, warum Sie sich für diesen Fall interessieren?«
Miersch hatte Brigitte Rademacher beinahe vergessen. Fast erschrocken hob er die Augen und war um eine Antwort verlegen. Die Wirtin Anne wollte er als Anlass nicht anführen. Die alte Rosel schien ihm als Begründung unmöglich. Er konnte wohl kaum sagen, dass er den Unschuldsbeteuerungen einer dementen Achtzigjährigen nachging.
»Bin durch Zufall auf den Fall gestoßen. Interessiert mich. Da kann ich sehen, wie die Kollegen im anderen Deutschland gearbeitet haben.« Miersch klang, als würde er seine Rolle im Amateurtheater aufsagen.
Doch die Rademacher schien seine Worte nicht ungewöhnlich zu finden. »Wie wir gearbeitet haben? Auch nicht anders als Sie.«
Natürlich nicht. Und doch, dieser Tonfall! Miersch hörte genau. Da war sie wieder, die versteckte Kritik an ihm, die Missachtung, der Vorwurf der Karrieregeilheit und des Machtmissbrauchs. Miersch würde sie nie verstehen, die Ossis. Er hatte sich ehrlich bemüht, aber er war von den alten, vom Sozialismus geprägten Kadern nie anerkannt worden. Hosfeld und Schmitt und Kohlund und Böer und wie sie alle hießen, schnitten ihn, sie machten sich über ihn lustig. Seine Qualifikationen hatten sie von vornherein in Abrede gestellt. Sie mutmaßten, dass er diesen Posten nur aus parteistrategischen Gründen oder Beziehungen erhalten hatte. Miersch hatte verstanden. Die Rademacher gehörte auch zu ihnen. Auch sie war ein Altkader. Allein, wie herausfordernd sie ihm jetzt in die Augen schaute … Und vom Gang zur Toilette lächelte ihm freundlich die Biederstedt, Bild, zu. Er stand zwischen allen Fronten. Mörder, Monster, … Auch die Kollegen nannten ihn wohl so. Miersch verschluckte sich am Kaffee. Nach dem Husten fragte er: »Können Sie sich an diesen Fall erinnern?«
»Herr Kriminaldirektor, wer kann sich nicht daran erinnern? Das hatte
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