Augen für den Fuchs
sich doch wie ein Lauffeuer rumgesprochen. Die Zeitungen haben drüber geschrieben. Die Lehrer haben gewarnt. Unsere Mütter haben uns den Ausgang verboten.«
»Die Zeitungen haben darüber berichtet? Ich dachte, in der DDR hätte man so etwas verschwiegen …«
»Die meisten denken, die DDR zu kennen, und wissen nichts. In jeder Mordakte sind die Mitteilungen an die Presse abgeheftet und die Ausschnitte säuberlich daneben geklebt.«
Die Archivarin griff zur Akte und blätterte. Miersch nippte an seinem Kaffee und fühlte sich unbehaglich, so als würde er nicht nur im Privatleben der Anne Popp, sondern auch in dem von Brigitte Rademacher wühlen.
»Hier. Sehen Sie!« Die Archivarin wies auf die Blätter.
Die Volkspolizei bittet um Mithilfe – Am 23. September 1982 wurde bei Naunhof im Kreis Leipzig an einer jungen Frau ein Tötungsverbrechen begangen. Im Zuge der Ermittlungen zur Aufklärung dieses Verbrechens erhielt die Polizei bisher zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung. Die Volkspolizei bedankt sich dafür und bittet um weitere Mithilfe. Für die kriminalpolizeilichen Ermittlungen sind Informationen zu folgenden Fragen wichtig: Wer war am Donnerstag, den 23. September 1982 in der Zeit von 16 bis 18 Uhr an den Naunhofer Seen? Wer kann sich an eine junge Frau erinnern, die allein am Nordufer auf einem braunen Laken lag? Sie hatte einen grünen Beutel dabei und war mit dem Fahrrad zum Baden gefahren. Sachdienliche Aussagen nimmt jede Polizeidienststelle …
Miersch wunderte sich, dass Vokabular und Duktus den heutigen Pressemitteilungen glichen. »Man hat in der DDR über Mord berichtet?«
»Keiner hätte diese Gewalttaten unter der Decke halten können. Wenn im Umkreis jemand getötet worden war, sprach sich das doch in Windeseile herum. Ein Mord wurde sofort zum Stadtgespräch und war in aller Munde. Zumal ja in der DDR wirklich weniger Straftaten als im Westen begangen wurden. Da kann man den Statistiken glauben.« Miersch glaubte einen Ton des Stolzes aus ihren Worten herauszuhören.
Die Rademacher trank schlürfend ihren Kakao. Den entstandenen braunen Rand über ihren Lippen schleckte sie mit der Zunge weg. Dann schaute sie belehrend, die Tasse noch immer vorm Mund. Fehlte nur, dass sie den Finger hob, wie ein Vater, der seine Kinder streng erzog.
»Aber wenn in Leipzig der Mord in der Zeitung stand, dann hat man in Dresden noch lange nichts drüber gelesen.« Sie stellte die Tasse wieder zurück. »Aber öffentlich zuzugeben, was die Bevölkerung eh schon wusste, hat auch schon bei Goebbels zur medialen Strategie gehört.«
Die Biederstedt, Bild, kam von Toilette zurück und schaute neugierig, mit wem Miersch am Tisch saß. Wahrscheinlich vermutete sie in Brigitte Rademacher eine Konkurrentin. Da die Biederstedt, Bild, den Blick nicht abwandte, wäre sie fast über die Treppe in den Gastraum gestolpert. Miersch verbiss sich das Lachen.
»Die DDR-Zeitungen unterschieden sich grundlegend von der Boulevardpresse heute«, sagte die Rademacher. »Schauen Sie sich in der Bibliothek einmal an, worüber die geschrieben haben. Auf jeder Titelseite ging’s mit der entwickelten sozialistischen Gesellschaft voran. Ich leiste was. Ich leiste mir was. Jeder, der arbeitete, wusste es aus Erfahrung besser. Uns haben nicht nur Bananen gefehlt.«
Die Archivarin holte tief Luft und schwieg. Ihre Augen schauten ins Leere, offensichtlich befand sie sich auf einem Erinnerungstrip. Genau dieses stille Lächeln hasste Miersch, es schien ihm wissend und überlegen, und er bekam keine Chance, die Melancholie um diese Vergangenheit je zu begreifen. Der Osten blieb ihm ein Buch mit sieben Siegeln, er würde es niemals öffnen können. Ihm fehlte der Schlüssel. Er hätte auf Margo hören sollen. Seine Versetzung nach Sachsen war ein Fehler gewesen.
»Über den Augensammler hat in Leipzig jeder gesprochen. Keiner hat geglaubt, dass bei uns so etwas passieren könnte. Dass in unserer Gegend ein Mörder leben könnte, der reihenweise Frauen metzelte und ihnen die Augäpfel ausstach. Uns ist das vorgekommen wie ein Film aus dem Westen.«
Miersch kannte die Schlitzer und Okkult-Perversen von Michael Myers bis Freddy Kruger. Es schien einen Wettbewerb um das absurdeste Mordmotiv zu geben. Ein fiktiver Serienkiller tötete nach Noten, einer nach den Namenstagen seines Großvaters. Mit der Realität hatten die Geschichten selten etwas zu tun, erst recht nicht SoKo Leipzig oder der hiesige Tatort. Aber manche Kollegen
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