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Augenblick der Ewigkeit - Roman

Titel: Augenblick der Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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und zu reinigen und hatte die Tür zum Treppenhaus geöffnet. Alles sollte offensichtlich nach einem Unfall aussehen. Nachdem er das Schloß der Büchsflinte zerlegt und eingeölt hatte, lud er den Kugellauf der zweiten, preßte ihren Schaft zwischen seine Beine und beugte sich über die Mündung. Keiner war im Haus, der den Schuß hören konnte.
    Der Selbstmord ihres Vaters traf sie im Innersten. Kein tröstendes Wort vermochte ihren Schmerz zu lindern. » Tröste den Trauernden nicht, solange sein Toter vor ihm liegt«, heißt es im Talmud. Doch im Gegensatz zu ihrer Mutter, die sich in ihr Zimmer eingeschlossen hatte und sich in eine fieberige Krankheit flüchtete, versuchte sie, den Schmerz zu bewältigen, indem sie sich dem Nächstliegenden zuwandte– von ihrem Vater Abschied zu nehmen und ihn zu begraben.
    Zunächst wußte sie nicht, wie sie sich dem Toten gegenüber verhalten sollte. Sie war befangen wie vor der Audienz mit einer hochgestellten Respektsperson. Beklommen öffnete sie die Tür zum Arbeitszimmer und ging in einiger Entfernung des Sargs, in dem ihr Vater aufgebahrt lag, auf Zehenspitzen hin und her, räusperte sich leise, als wollte sie ihn auf ihre Anwesenheit aufmerksam machen. Schließlich beugte sie sich über ihn, erforschte sein Gesicht, indem sie es mit all den Gesichtern ihres Vaters verglich, die sich seit der Kindheit ihrem Gedächtnis eingeprägt hatten. Sosehr sie sich auch mühte, es glich keinem mehr. Alle Vertrautheit war daraus verschwunden, er wirkte wie ein Fremder. Auf seiner Stirn lag eine marmorne Ruhe, und seine starre Stummheit kam ihr vor wie eine Maske, hinter der sich eine verschlossene Tür verbarg.
    Sie war froh, daß seine Augen geschlossen waren. Sie hatte Angst vor seinem toten Blick gehabt. Bevor man ihn aufgebahrt hatte, hatten Totenwäscher seinen zerschossenen Unterkiefer mit einer weißen Binde hochgebunden und ihm die Augen zugedrückt, so daß er aussah, als hätte er Zahnschmerzen.
    Sie neigte sich zu ihm hinab und sagte ihm mit ihrer inneren Stimme, wie sehr sie ihn geliebt und daß sie ihm verziehen habe. Sie küßte ihn auf die Stirn. Dann richtete sie sich wieder auf. » …und da du keine Söhne hast, Papa, laß mich dir Kaddisch sagen. › Erhoben und geheiligt werde sein großer Name auf der Welt, die nach seinem Willen von ihm erschaffen wurde– sein Reich erstehe in eurem Leben in euren Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel, schnell und in nächster Zeit, sprecht: Amen.‹«
    Sie streute gemahlenen Kaffee in den Sarg, zerschlug das irdene Schüsselchen, in dem sich das Kaffeemehl befunden hatte, und legte die Scherben auf seine Augen, damit sie für immer geschlossen blieben. Sie stand auf, zog die schweren Vorhänge zu und zündete die Kerzen an. Damit war alles getan, und die Trauergäste konnten kommen.
    Den ganzen Tag über mußte Franziska in Vertretung ihrer Mutter die Kondolenzbezeugungen der Trauergäste entgegennehmen. Offiziell sprach man von einem tragischen Unglücksfall. Vertreter der Wiener Hochfinanz und die Künstlerfreunde der Familie hatten sich im Lauf des Tages in der Villa in Döbling eingefunden. Auch einige der Rabbiner der Esterházyschen Siebengemeinde waren gekommen. Ihre geheimnisvollen Gebete und Litaneien erfüllten die Halle und drangen hinauf bis ins Arbeitszimmer, in dem der Tote unter einem schwarzen Tuch in seinem Sarg aufgebahrt war. » Sch’ma Israel– höre Israel! Gott unser Herr ist ein eigener einziger Gott.«
    Am späten Nachmittag, Franziska hatte die meisten Trauergäste schon hinausbegleitet, kam Steinberg die Treppe herunter zu ihr in die Halle. » Karl wird bestimmt auch noch kommen.«
    » Er hätte wenigstens anrufen können. Alle großen Zeitungen haben über den Unfall berichtet.«
    » Gib ihm noch eine Chance.« Er zog sich den Mantel über und küßte zum Abschied ihre Hand. Doch als er das Haus verlassen wollte, faßte Franziska seinen Arm und hielt ihn zurück. » Nein, warte noch. Geh nicht. Bleib heute nacht bei mir.«
    Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheiben. Auch die letzten Trauergäste hatten endlich das Haus verlassen, und Franziska, die den ganzen Tag um Haltung bemüht gewesen war, ließ sich wimmernd neben Steinberg aufs Bett fallen. Er küßte sie, und sie erwiderte seinen Kuß wie eine Verdurstende, die etwas Nasses auf den Lippen spürt. Die Toten kann nichts mehr berühren. Es sind die Hinterbliebenen, die nach dem Leben gieren und sich nach Liebe sehnen. Warm

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