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Augenblick der Ewigkeit - Roman

Titel: Augenblick der Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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Augenblick glaubte, er wäre der eigentliche Urheber der Musik.
    Wie angeschraubt stand er mit beiden Füßen auf dem Podium und bewegte seinen vorgebeugten Oberkörper nur aus der Hüfte und dem Schultergürtel heraus. Beide Arme formten rasche und schwungvolle Bogen, deren kinetische Energie er über Schultern, Ellbogen und Handgelenke bis in die Spitzen des kleinen abgespreizten Fingers der rechten Hand ableitete, in der lässig der Dirigentenstab ruhte und das Taktschlagen wie nebenbei erledigte. Emsig sammelte er alle herumschwirrenden Töne wie luftige Kostbarkeiten ein, bündelte ihre musikalische Energie mit angewinkelten Armen vor seinem Körper, bevor er sie an den Solisten und das Orchester weiterleitete, um die Musik in einer Art »Legato permanente« strömen zu lassen.
    Es entstanden magische Momente, die sie frösteln ließen, geheimnisvoll und undurchschaubar. Sie vermochte kaum noch auf die Musik zu achten und spürte jenes wohlige Gefühl der Selbsthingabe, das sie so oft bei ihren inbrünstigen Zwiegesprächen mit ihrem Gott erlebt hatte. Mitunter versuchte sie in seiner dynamischen, suggestiven Gestik die rätselhaften Zusammenhänge des gesamten musikalischen Geschehens zu entziffern. Aber je länger die Probe dauerte, um so weniger wollte sie wissen, wie der Zauber zustande kam, der ihr Schauer des Entzückens über den Rücken jagte.
    Die merkwürdigsten Gedanken schossen ihr durch den Kopf: auf das Konzertpodium zu springen, mitten in das Orchester hinein, und mitzusingen, laut herauszulachen oder dem Dirigenten um den Hals zu fallen, ihn zu küssen oder ihn einfach nur in sein Hinterteil zu zwicken. Ihre Phantasien machten sie unvorsichtig, so daß sie sich zu weit nach vorne beugte. Für einen Moment fühlte sie seinen Blick auf sich gerichtet, der auf ihrer Wange brannte, als hätte Er sie angerührt.
    Großer Gott, ich bin verloren! Sie schlug die Hände vors Gesicht und versuchte, sich darüber klar zu werden, was mit ihr geschah. Aber sie konnte weder das, was sich ereignet hatte, noch das, was sie fühlte, begreifen. In diesem Augenblick durchfuhr sie die Gewißheit– das war der Märchenprinz, der ihr alleine vorherbestimmt worden war.
    Sie gab ihr Versteckspiel auf, legte den Arm auf die samtene Brüstung der Loge, drehte ihr Profil ins rechte Licht, von dem sie annahm, daß es sie am vorteilhaftesten aussehen ließ. Es schien ihr sonderbar, sich jemandem so auszuliefern, ohne ihn persönlich zu kennen. Da sie davon überzeugt war, alles zu bekommen, was sie sich erträumte, bat sie später ihren Bruder, sie dem Dirigenten Karl Amadeus Herzog vorzustellen. Die Gelegenheit dazu kam schneller, als sie erwartet hatte.
    Wie üblich bei Gastspielen ausländischer Orchester hatte Furtwängler die Mitglieder des London Philharmonic Orchestra mit ihrem Chef Sir Thomas Beecham am Tag nach ihrem Gastkonzert zu einem feierlichen Bankett in die Philharmonie gebeten, zu dem nur Musiker und deren Freunde eingeladen waren. Wer Rang und Namen hatte in der Berliner Musikszene, war seiner Einladung gefolgt.
    Bei solchen Bankettveranstaltungen hockten wie immer die Kollegen der jeweiligen Instrumentengruppen beieinander. Die Flötisten mit den Bläsern, die Cellisten mit den Streichern, die Paukisten mit den Schlagwerkern. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung wie bei einem Klassentreffen. Sir Thomas Beecham war aufgestanden und gab einige politische Limericks zum Besten, die die englischen Gäste ihren deutschen Kollegen nur hinter vorgehaltener Hand zu übersetzen wagten. Man kannte und man schätzte sich, denn die wenigen europäischen Spitzenorchester trafen sich auf ihren alljährlichen Konzerttourneen ziemlich regelmäßig, wie eine große internationale Familie.
    An jenem Abend sah Gudrun besonders bezaubernd aus und setzte alle ihre Verehrer in Entzücken. Ohne für deren Avancen empfänglich zu sein, zog sie sich auf die Galerie über dem prächtig geschmückten Oberlichtsaal zurück, stand an der Brüstung, ihr Blick schweifte über die Menge. Dabei ließ sie das Eingangsportal nicht aus den Augen, durch das alle Neuankömmlinge den Festsaal betreten mußten, und suchte, während sie auf seinen Auftritt wartete, in gespielter Gleichgültigkeit unter den Gästen nach bekannten und unbekannten Gesichtern, wiewohl sie vor innerer Erregung schier platzte. Auf den Stufen, die ins Vestibül vor dem Großen Konzersaal führten, stand ihr Bruder, umringt von einer beachtlichen Schar junger

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