Augenblick der Ewigkeit - Roman
ähnliche mädchenhafte Hochstimmung wie zwischen Madame Hue und seiner kleinen Enkeltochter, die so flüchtig war, daß sie sofort verflog, wenn sich ein männliches Wesen zeigte. Deshalb wagte er sich nicht zu weit vor, sondern drückte sich an die Wand und hielt den Atem an. Im Spiegelglas der Fensterscheibe sah er, wie Madame der Kleinen die Schokoladencreme aus dem Gesicht wischte und jeden ihrer Schokoladenfinger einzeln unter fließendem Wasser wusch.
» Hast du denn deinem Opa den Brief auf seinen Schreibtisch gelegt?«
Lisa nickte ernst und schüttelte den Kopf.
» Nein– aber ich hab ihn dem Opa auf seinen Teller gelegt, damit er ihn liest, wenn er vom Schwimmen kommt.«
» Es muß was sehr Wichtiges sein.«
» Dann hast du ihn schon gelesen?«
» Nein, das darf man nicht– fremde Briefe lesen.«
» Woher weißt du dann, daß er wichtig ist?«
» Weil der Brief nicht wie all die anderen mit der Post gekommen ist, sondern weil der Erzbischof von Aix ihn durch einen persönlichen Boten geschickt hat.«
» War das der Mann auf dem Fahrrad, in dem langen schwarzen Kleid?«
» Das war unser Abbé Chélan in seiner Soutane.«
» Was ist ein Abbé?«
» Ein frommer Mann.«
» Was ist ein frommer Mann?«
» Einer, der in den Himmel kommt, wenn er gestorben ist.«
» Ist Opa auch ein frommer Mann?«
» Dein Opa ist ein großer Künstler.«
» Kommt er dann nicht in den Himmel?«
Er wollte die anmutige Konversation nicht stören und sich unbemerkt am Fenster vorbeischleichen, als der Postbote die Glocke am Eingangstor betätigte und die Idylle in der Küche wie eine Seifenblase zerplatzte.
» Lassen Sie, Madame, ich mach schon auf.« Karl drückte auf den elektrischen Türöffner, und das Postauto fuhr durch das Eingangstor die Auffahrt hinunter. Seit Tagen schon konnten die Beamten die vielen Glückwunschkarten, Grußadressen und Geburtstagsbriefe nur noch in einer Plastikwanne von Saint-Tropez hinauf zum Cap du Pinet transportieren. Dabei standen seine Anschrift oder sein Name oft nicht einmal auf den Briefumschlägen. Es genügte, daß das Wort » Maestro« als Adresse angegeben war, und jeder Postbeamte an der Côte wußte, wer damit gemeint war.
Der Gartentisch auf der Terrasse war für das Frühstück gedeckt: Toast und Tomaten, so frisch vom Strauch, daß sie noch warm von der Sonne waren. Er hatte sich nie viel aus Essen gemacht. Am liebsten war es ihm, wenn er sich in den Restaurants nichts selbst bestellen mußte und dafür von den Tellern der anderen naschen durfte. Doch das Frühstück hatte einen wichtigen Stellenwert in seinem Tagesablauf, weil er dabei die Zeitung überflog und seine Post sortieren konnte. Er schlürfte den heißen Tee, und während er die Tomaten in Scheiben schnitt und sie mit Olivenöl beträufelte, durfte Lisa die Glückwunschbriefe öffnen, die er nur oberflächlich überflog, bevor er sie zurück in die Plastikwanne warf.
Den Brief der Erzdiözese Aix-en-Provence jedoch hatte er sich bis ganz zum Schluß aufgehoben. Der Umschlag war mit rotem Lack verschlossen und dem bischöflichen Wappen gesiegelt. Er drehte ihn hin und her, roch daran und betrachtete lange die Absenderadresse, die mit goldenen und roten Lettern in das wattierte Büttenpapier geprägt war.
» Wenn in dem Brief steht, was ich hoffe, fahren wir beide nachher zur Wallfahrtskapelle und werden der heiligen Anna eine dicke Kerze spenden!«
Er legte den Brief zurück auf den Tisch. Lisa platzte fast vor Neugier. » Dann darf ich ihn jetzt aufmachen?«
Er machte sich einen Spaß daraus, die Kleine und sich selbst noch eine Weile auf die Folter zu spannen. » Noch nicht, Schätzchen. Später…«
Lisa unterbrach ihn. » Jetzt ist später!«
» Später ist, wenn der Opa zu Ende gefrühstückt hat.«
» Aber es muß was sehr Wichtiges sein, was drinsteht.«
» Woher weißt du das?«
» Madame hat es mir gesagt.«
» Hat Madame denn den Brief gelesen?«
» Man darf keine fremden Briefe lesen. Aber ein frommer Mann hat ihn gebracht, der in den Himmel kommt, wenn er mal tot ist.«
» Willst du, daß der Opa auch in den Himmel kommt?«
Die Kleine nickte ernst.
» Also, dann wollen wir doch mal nachschauen…«, Lisa brach das Siegel, und er entfaltete den Brief, » …ob das zutrifft.«
Schon als er die Anrede » Sacri palatii Comites et Equites aurati« las, war er bereits im siebten Himmel. Seine Exzellenz, der Erzbischof von Aix, Bernard Panafieu, beehrte sich, ihm mitzuteilen, daß
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