Augenblick der Ewigkeit - Roman
Chance!«
Im Grund wußte er, daß seine Argumente nur ein Vorwand waren. In Wirklichkeit fürchtete er sich vor ihrem Tod.
» Wenn du willst, komme ich mit dir.«
» Aber du kennst sie noch nicht einmal.«
» Dann werde ich sie endlich kennenlernen.«
Im letzten Herbst, als Gudrun bemerkt hatte, daß sie schwanger war, hatten sie sich in Berlin in aller Heimlichkeit in der Friedrichwerderschen Kirche trauen lassen. Es war an einem Samstagvormittag, und die ersten Herbststürme fegten Unter den Linden das Laub von den Bäumen. Gudruns Hand zitterte, als er ihr den Trauring überstreifen wollte, und beide kicherten über seine Unbeholfenheit. Damals hatte sich seine Mutter schon so schwach und elend gefühlt, daß sie nicht nach Berlin kommen konnte. Am Telefon hatte Karl ihr versprochen, die Hochzeitsfeier an Weihnachten in Karlsbad nachzuholen, doch zwischen den Jahren wurde er auf eine Konzerttournee durch Norditalien geschickt.
Zeit für Flitterwochen hatten sie keine. Die Hochzeitsfeier bestand aus einem kleinen Mittagessen im Adlon mit ihrem Bruder Wolfgang und mit Krausnik, die ihre Trauzeugen gewesen waren. Danach ging jeder wieder seiner Arbeit nach. Gudrun quälte sich mit den halsbrecherischen Koloraturen der Zerbinetta für die Neuinszenierung der Ariadne auf Naxos in der Staatsoper, und Karl verbrachte den Rest des Tages im Tonstudio des Rundfunkhauses, wo er an den Aufnahmen für seine neuste Schallplatte feilte.
» Das geht nicht.«
» Warum nicht? Schließlich stirbt die Mutter meines Mannes.«
» Sterben ist was Schreckliches, es könnte dich in deinem Zustand zu sehr belasten. Eigentlich solltest du auch schon längst nicht mehr auf der Bühne stehen.«
» Wieso nicht?«
» Es könnte unserem Baby schaden.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften und streckte ihm ihren nackten Bauch entgegen, der sich in den sechs Monaten ihrer Schwangerschaft gerundet hatte.
» Solange ich singe, wird dieses Kind in meinem Bauch wie von einem zusätzlichen Panzer umgeben sein!«
Sie parkten den Wagen auf dem Platz vor dem Stadttheater, den Karlsbader Bürger nach der Annexion in Adolf-Hitler-Platz umbenannt hatten, und gingen die letzten Schritte zu Fuß. Es war Jahre her, er hatte noch in Prag studiert, daß er seine Mutter zum letzten Mal besucht hatte. Schon damals hatte er sich gewundert, daß ihm die Gassen und die Häuser viel enger und kleiner vorgekommen waren, als er sie in Erinnerung hatte.
» Sollten wir uns nicht beeilen?« Gudrun drängte. Er jedoch hatte keine Eile und schlenderte wie ein Kurgast auf der Promenade am rechten Ufer der Tepl entlang zum Becherplatz hinunter und bog am Ende der Sprudelkolonnaden in die Kreuzstraße ein. Um die Mittagszeit waren die meisten Läden geschlossen. Vor einigen Schaufenstern blieb er stehen und betrachtete unentschlossen die Auslagen, so wie er es früher gemacht hatte, wenn er sich nicht nach Hause traute. Die Angst, die Mutter könnte schon gestorben sein, war größer als die Angst davor, vielleicht zu spät zu kommen.
Sein Herz klopfte, als sie endlich vor der Musikalienhandlung angelangt waren, und er entdeckte, daß im ersten Stock die Vorhänge zugezogen waren. War das das Zimmer, in dem sie lag? Die Nähe zu der sterbenden Mutter erneuerte in ihm das Gefühl des Schreckens vor der Unergründlichkeit des Todes, das ihn schon während der Fahrt von Prag nach Karlsbad nicht losgelassen hatte, und er wurde wieder von jenem Grausen gepackt, das er zum ersten Mal verspürt hatte, als der Vater in seinen Armen gestorben war. Wie festgenagelt stand er vor dem Elternhaus und traute sich nicht hinein.
Das schwarze Glasschild über der Schaufensterfront, auf dem früher mit goldenen Buchstaben » Musikalienhandlung – Joseph Suk & Bohumil Herzog« geschrieben war, hatte man ersetzt. Statt wie früher Noten und Musikinstrumente, konnten Kurgäste jetzt hier Radios, Grammophone und Schallplatten kaufen. Einige, die er bei der Deutschen Grammophon aufgenommen hatte, waren wie auf einem Hausaltar im Schaufenster ausgestellt.
» Gut, daß Sie gekommen sind.« Olga, das Ladenmädchen, hatte sie schon erwartet.
» Sind wir zu spät?«
» Nein, aber ich fürchte, es wird bald zu Ende gehen.« Olga nahm ihnen die Mäntel ab und führte sie in die Diele.
» Woher wissen Sie das?«
» Weil sie angefangen hat, die letzten Dinge zu ordnen. Der Herr Pfarrer war schon bei ihr.«
Seine Augen mußten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, als sie in das Zimmer
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