Augenblick der Ewigkeit - Roman
wie er sie verlassen hatte, mit einem strengen Ausdruck auf dem Gesicht. Er überwand sich und wollte sie auf ihre Stirn küssen, doch im selben Augenblick schreckte er vor ihr zurück. Die ganze Kraft der Liebe, die er ihr gegenüber eben noch empfunden hatte, war verschwunden und hatte einem Gefühl des Grauens vor der Toten Platz gemacht. Dort, wo eben noch seine Mutter gelegen hatte, lag jetzt etwas Fremdes, Feindseliges, ein furchterregendes und abstoßendes Geheimnis.
Nizza – Freitagmittag
In der Wallfahrtskapelle Sainte-Anne, auf einer vulkanischen Bergspitze zwischen Saint-Tropez und Ramatuelle, hatten der jüngst gekürte Cavaliere vom Sporn und seine Enkeltochter Lisa der heiligen Anna eine Kerze gespendet. Danach war er mit seinem Wagen nach Nizza aufgebrochen, wo am Nachmittag die Generalprobe für das Satellitenkonzert stattfinden sollte. Er hatte sich in Frack und weißer Weste adjustiert, denn die Generalprobe sollte von den Kameras mitgeschnitten werden.
Um die Mittagszeit entlud sich ein Sommergewitter über der Stadt und der Küste und setzte einen Teil der Victorine Studios so unter Wasser, daß Straßen und Wege des Geländes überschwemmt wurden. Blaßgraue Wolken standen wie unbehauene Marmorblöcke vor der schwarzen Gewitterwand über den Montagnes du Chiers, wohin sich das Unwetter verzogen hatte, und dichter Regen strich wie eine schräge Bleistiftschraffur über den Mouton d’Anou, als Herzog übermütig aufs Studiogelände raste, daß das Wasser nur so spritzte. Der Countdown für das Satellitenkonzert lief, und keiner konnte ihn mehr aufhalten.
Vom Pförtner alarmiert, empfingen ihn die Assistenten vor der Studiotür mit dicken Zeitungspaketen in den Armen. Bevor Herzog einen Fuß auf den Boden setzen konnte, hatten sie die Pfützen mit Zeitungen abgedeckt, die es ihm ermöglichten, über eine papierene Brücke trockenen Fußes das Hauptportal zu erreichen.
Cosmo kam ihm auf der Galerie entgegen. » Die Abzüge von Sipa Press sind gekommen.«
Gutgelaunt stürmte er voraus und warf einen knappen Blick darauf. Die Kontakte zeigten ihn in dynamischen Dirigierposen vor schwarzem Hintergrund.
» Mademoiselle Dunn scheint Talent zu haben!«
» Professor Ascher von der Cambridge Faculty of Music wartet in Ihrem Büro.«
» Und– ist sie fesch, das Fräulein Professor?«
» Für einen Blaustrumpf schon, dennoch werde ich Sie…«, er tippte er auf seine Armbanduhr, » …in spätestens zehn Minuten von ihr befreien.«
Jacky Aschers Fragen waren sehr geschickt. Einfühlsam versuchte sie sich in seine damalige Lage zu versetzen, wobei sie unterstellte, daß die » Gottbegnadeten« den Naziterror ebenso verabscheuten wie die, die emigrieren mußten. Besonders gefallen hatte ihm das Nietzsche-Zitat, mit dem sie das Gespräch eröffnet hatte: Moral mache dumm, und moralische Entrüstung sei oft nichts als Eifersucht mit einem Heiligenschein. Und weil sie im Gegensatz zu manchen Journalisten jeden moralischen Unterton vermied, bemühte er sich, auf ihre Fragen nach Sinn und Zweck der » Gottbegnadetenliste« ehrliche Antworten zu finden.
» Was war eigentlich der Auslöser für diese Liste?«
» Man werde Deutschland in die Steinzeit bomben, hatte Churchill verkündet. Gute Laune sei ein Kriegsartikel, hatte Goebbels daraufhin erwidert, der unter Umständen kriegsentscheidend sei. Unverzüglich wurden die fähigsten Künstler des Reichs, auf die man auch nach dem Endsieg nicht verzichten wollte, in besonderen Listen erfaßt und vom Wehrdienst freigestellt, wobei es sich von selbst verstand, daß sie nur bei Wohlverhalten gegenüber den staatlichen Anforderungen mit einer U.k.-Stellung rechnen konnten.«
» Wer war ein › Gottbegnadeter‹, und nach welchen Kriterien wurde er in die Liste aufgenommen?«
» Das Propagandaministerium legte ein Register an, das ein kunstsinniger Sachbearbeiter mit feiner Ironie unter dem Aktentitel › Gottbegnadetenliste‹ führte, was aber keineswegs bedeutete, daß Goebbels jener Gott gewesen ist oder die Privilegierten ausschließlich Parteigenossen oder politische Sympathisanten der Nazis sein mußten. In der Liste wurden alle jene Künstler registriert, die bei einem Jahreseinkommen von mindestens hunderttausend Reichsmark einen hinreichenden Berühmtheitsgrad vermuten ließen, daß sie, ob als Filmstar oder Stardirigent, beim großen Publikum eine gewisse Popularität besaßen. Eine Summe, die ich als Staatskapellmeister mühelos erreichte, so
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