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Augenblick der Ewigkeit - Roman

Titel: Augenblick der Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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Donau, unweit von Linz, die er von seiner Arbeitsstätte in St. Florian aus bei klaren Tagen unschwer hätte sehen können.
    Gudrun war in Tränen ausgebrochen, er hatte zu Boden geschaut. Er konnte den Anblick dieser geschundenen Kreaturen nicht ertragen, fühlte sich persönlich aber nicht angesprochen. Woher hätte er wissen können, was sich in Mauthausen abspielte, als er mit seinem Reichs-Bruckner-Orchester für Albert Speer und für die Spitzenmanager der deutschen Rüstungsindustrie Konzertabende gab– nachdem die Herren ihre ausgemergelten KZ-Häftlinge » besichtigt hatten«. In dieser Hinsicht hatte er sich nichts vorzuwerfen. Er hatte niemanden bedroht, verletzt, gequält und niemandem geschadet. Im Gegenteil, er hatte Musik gemacht, um die Menschen zu erfreuen.
    Was also war die Wahrheit, die sie hören wollten? » Stecke sie in Allem nur zum Teil, wäre sie also nirgends ganz und gar in ihrer reinen Gestallt vorhanden«, wie Schiller postuliert hatte, würde es beim Ausfüllen des Fragebogens wohl eher auf sein Wissen als auf sein Gewissen ankommen. Karl justierte die Schreibmaschinenwalze. »Für Sie in Frage kommende Stellung.« Auf einen Schmierzettel hatte er »Generalmusikdirektor, Staatskapellmeister, Orchesterleiter, Dirigent« notiert. In Linz war er zuletzt als einfacher Kapellmeister eingestellt worden, so daß er mit gutem Gewissen das » Staats-« vor dem » Kapellmeister« weglassen konnte.
    Die Fragen zwei bis zehn betrafen seinen Namen, Geburtsdatum, Geburtsort, Größe, Gewicht, Haarfarbe, Farbe der Augen, und Narben und waren leicht zu beantworten. Bei den Fragen elf, gegenwärtiger Wohnsitz, und Frage zwölf, ständiger Wohnsitz, zögerte er und dachte »vorläufiger Wohnsitz« wäre angebrachter und würde der flüchtigen Existenz seines gegenwärtigen Lebens sehr viel mehr entsprechen.
    Im Durcheinander der letzten Kriegstage war es ihm gelungen, sich mit einem Fahrrad die Donau und den Inn hinauf nach Neuhaus am Schliersee durchzuschlagen. Auf den Kirchtürmen der Ortschaften wehten weiße Fahnen, Eltern verlangten von den Kindern, ihre Sammelbilder von Ritterkreuzträgern zu verbrennen, und wenn es Nacht wurde, fiel aus allen Fenstern wieder Licht. Die Verdunklung hatte aufgehört, das sicherste Zeichen, daß der Krieg zu Ende war. Flüchtlingshaufen fluteten jetzt über alle Straßen. Solche, die nach Hause wollten, oder solche, die kein Zuhause mehr hatten. Displaced Persons, zu Skeletten abgemagert, die ziellos herumirrten und nicht darüber sprechen konnten, was ihnen zugestoßen war. Wenn sie aber davon erzählten, dann mußten sie das Schweigen ihrer Zuhörer als ein Zeichen nehmen, daß niemand ihnen glaubte.
    Gudrun war es rechtzeitig gelungen, mit Joachim aus dem zerbombten Wien zu entkommen, und sie hatte bei ihren Eltern, einem pensionierten Lehrerehepaar, Unterschlupf gefunden. Im Vogelbauerhof am Waldrand unterhalb des Brunstvogels, mit sieben Zimmern, einer Toilette für beide Stockwerke und nur einem Badezimmer, hauste er mit mehr als einem Dutzend Personen auf engstem Raum. Wer keinen Passierschein hatte, durfte nach den Gesetzen der Militärregierung den Wohnort nicht verlassen. Hier war nicht sein Zuhause, weder »gegenwärtig« noch »ständig«. Hier kam er sich vor wie eingesperrt. Wütend riß er den Fragebogen aus der Schreibmaschine und steckte ihn in den Kanonenofen. Bei dieser schematischen Fragestellung, die alle über einen Kamm scherte, konnte er nicht einsehen, daß die Beantwortung des Fragebogens etwas zur Wahrheitsfindung, » wie es dazu gekommen ist«, beigetragen hätte.
    » Warum hast du das getan?« Gudrun stand verschlafen in der Küchentür.
    » Dieser Fragebogen ist nichts als ein abgekartetes Spiel von Remigranten, die unsereinen vernichten wollen.«
    » Vielleicht zwingen uns die Amerikaner nicht ganz zu Unrecht, darüber nachzudenken, was in den letzten zwölf Jahren geschehen ist.«
    Sie schöpfte aus einer Schüssel Wasser und wusch sich damit das Gesicht. Karl stand auf und nahm sie in den Arm. » Du siehst müde aus. Warum legst du dich nicht wieder hin und schläfst noch ein bißchen?«
    » Seit dem Film im Gemeindesaal kann ich nicht mehr schlafen.«
    Als sie die Leichenberge gesehen hatte, die von Bulldozern wie Müll in riesige Kalkgruben geschaufelt wurden, war sie so entsetzt gewesen, daß sie sich seither fragte, wo denn Gott gewesen war, als all diese Verbrechen geschahen. » Gott hat sich in seiner Kirche versteckt«, war

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