Augenblick der Ewigkeit - Roman
Musikverein, abgeschaut hatte.
Als zu Anfang der zwanziger Jahre der schlaksige Wilhelm Furtwängler mit der imposanten hohen Stirn und dem schon schütter werdenden Haar in Wien aufgetaucht war und Karl ihn als Leiter des Wiener Tonkünstler-Orchesters in der Wintersaison hatte dirigieren sehen, war er von der Magie dieses faszinierenden Musikers gepackt worden, die ihn nicht mehr losgelassen hatte.
Denn dieser Doktor Wilhelm kam im Wiener Gschnas daher wie ein Temperamentsbolzen und Zappelphilipp, der so völlig anders musizierte, als Karl das von dem grandseigneurhaften Wiener Dirigentenklüngel gewöhnt war. Mottl, Schuch und Muck zum Beispiel, aber vor allem der dandyhafte Chefdirigent der Philharmoniker, Felix von Weingartner, Edler von Münzberg, hatten so ziemlich alles wieder zunichte gemacht, was Gustav Mahlers Genie als Hofoperndirektor in Wien an Orchesterkultur aufgebaut hatte.
Anfangs war Karl von der Überspanntheit des Doktor Wilhelm auf dem Konzertpodium eher verblüfft als begeistert. Aber bald schon war er seinem Klangrausch verfallen. Er konnte sich der eigenwilligen, exzessiven Gestik, mit der er sowohl Orchester als auchZuhörer magisch in seinen Bann zog, nicht entziehen: Immer in Bewegung, vollführte der Doktor tanzend, manchmal sogar mitsingend, kreisende Schwünge mit seinen langen Spinnenarmen, die kaum noch als präzise Schläge zu identifizieren waren. Was er mit seinen Armen und Händen tat, schien das Allereinfachste der Welt zu sein. Karl war es fast peinlich, so genau darauf zu achten, um hinter das Geheimnis seiner Kunst zu kommen – auf jenes jähe Herausbrechen des rechten Ellbogens, mit dem er wuchtige Akzente setzte, auf das Flimmern seines Taktstocks, mit dem er die Musik wie aus dem Nichts erschuf, oder auf die biegsamen Finger, die zärtlich nach den Tönen griffen, sie streichelten, umschmeichelten, um sie, wenn er genug von ihnen hatte, wie Wassertropfen wieder abzuschütteln. Genauso gut hätte er sich ausmalen können, wie Chopin die Hände auf die Tasten legte, Michelangelo den Pinsel in der Farbe rührte oder Dostojewski seine Feder in das Tintenfaß steckte. Denn alle diese Gesten und Bewegungen waren ja nur das Alleräußerste seiner Dirigierkunst.
Nein, was Karl zutiefst beeindruckte, war seine charismatische Führerpersönlichkeit, die in ihrem talarartigen Gehrock eher einem Priester oder Schamanen als einem Kapellmeister glich, daß er jede Partitur auswendig dirigierte und dem Orchester mit geschlossenen Augen seinen Willen aufzwang, gestandenen Künstlerpersönlichkeiten, die er allein mit seiner Gestik bändigte und zu seinem eigenen, einzigartigen Instrument formte, auf dem er musizieren konnte wie ein Pianist auf dem Klavier.
Wie ein Süchtiger schlich er sich in alle Konzerte der Wiener Symphoniker, die der Doktor als jüngster Konzertdirektor der Musikfreunde Wiens leitete. Ohne daß man zu Hause etwas davon merken durfte, klaute er Geld für die Billetts, wenn sein Taschengeld nicht mehr reichte, und sammelte jede Information über sein neues, hochverehrtes Vorbild– daß er zum Beispiel mit seinen fünfunddreißig Jahren als Chef und Nachfolger des großen Arthur Nikisch sowohl des Leipziger Gewandhausorchesters als auch der Berliner Philharmoniker gehandelt worden war und die Wiener sich den Kopf zerbrochen hatten, wie sie ihn mit List und saftigen Honoraren an die Donau locken könnten; daß er rastlos reiste, ein leidenschaftlicher Skiläufer und Bergwanderer war, schon als Knabe komponiert hatte und als ein Homme à Femmes sowohl von älteren Verehrerinnen als auch von jungen Damen vor und nach jedem Konzert umlagert wurde. Das Konservatorium war eine ergiebige Klatschbörse.
Von nun an wußte Karl, welcher Weg für ihn bestimmt war. So einer wie der wollte er auch einmal werden, einer, dem das Publikum zu Füßen lag und zu dem alle Welt aufschaute. Doch um dieses Ziel zu erreichen, mußte er seine ganze Willenskraft, seine Energie und seinen Ehrgeiz zu einer einzigen Anstrengung bündeln, in der das Klavier nur noch eine untergeordnete Rolle spielen durfte. Noch wagte er es nicht, sich irgend jemandem zu offenbaren, auch Franziska nicht, aus Angst, der Hofrat könnte davon Wind bekommen.
Insgeheim aber war er dem Doktor Wilhelm so verfallen, daß er innerlich die ihm bestimmte Karriere als Konzertpianist schon längst an den Nagel gehängt hatte. In der ersten Krise seines jungen Künstlerlebens, als oft tagelanges Versinken in tiefer
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