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Augenblick der Ewigkeit - Roman

Titel: Augenblick der Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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sich glücklich und geborgen in der heimlichen Zwischenwelt von Kindheit und Erwachsensein, zu der keiner Zutritt hatte außer sie selbst. Sie fing an, sich in den Hüften zu wiegen und leise vor sich hinzusingen, ein Singsang, ein Murmeln, fast wie eine Beschwörung. Ein Luftzug streifte ihren Nacken, und eine Stimme, die nicht die ihre war, hauchte hinter ihr.
    » Wie schön du bist…«
    Karl hatte, wie er ihr danach erzählte, in seiner ersten Nacht auf dem Landsitz keinen Schlaf gefunden. Er lag auf seinem Bett, vertieft in die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Er hatte sich das Buch von seinem Taschengeld in Wien gekauft, nachdem er herausgefunden hatte, daß der Roman auf Erfahrungen beruhte, die der Autor in derselben Kadettenanstalt in Eisenstadt gemacht hatte, in der auch er so unglücklich gewesen war. Sobald er sicher sein konnte, daß alle sich im Haus zur Ruhe begeben hatten, legte er das Buch zur Seite, drapierte die zusammengerollte Decke so, daß, wer einen flüchtigen Blick ins Zimmer tat, glauben mußte, er schlief. Die Neugier trieb ihn in sein geheimes Versteck unter dem Dach der alten Scheune. Möglich, daß es in den Wintermonaten entdeckt worden war. Leise schlich er sich aus seinem Zimmer, bestach, um nicht verbellt zu werden, den gefräßigen Rollo mit einem Wurstzipfel vom Abendbrottisch. Dann huschte er in seinem weißen Nachthemd über den Hof und verschwand auf der gegenüberliegenden Seite im Mondschatten des weit geöffneten Scheunentors.
    Hier knipste er eine Taschenlampe an und kletterte über eine Holzstiege auf den Scheunenboden, in dem bis unter die Decke Strohballen gestapelt waren. Ein schmaler Durchgang zog sich zwischen meterhohen Strohwänden über die ganze Länge des Speichers. Er gelangte in einen offenen Lagerraum, wo man die Ballen über Rutschen abgebaut hatte, um einen eisernen Wassertank zu installieren, der im Fall eines Brandes zum Löschen dienen sollte. Er räumte ein paar Strohballen, die er zum Schutz seines Verstecks aufgetürmt hatte, beiseite und öffnete die Tür, die dahinter zum Vorschein kam. Sie quietschte, rieb sich im Rost der Angeln und gab nur widerstrebend nach. Er hob die Lampe. Über ihm verlor sich ein Gewirr von Balken in der Dunkelheit. Eine Leiter führte noch weiter hinauf bis unters Dach. Tänzelnd folgte ihm sein Schatten an der weißgetünchten Brandmauer die Sprossen hoch.
    Oben angekommen, knipste er das Licht der Taschenlampe aus und wartete, bis sich sein Atem beruhigt hatte. Dann wuchtete er mit beiden Armen eine Falltür hoch, die mit einem scharfen Knall zur Seite fiel und eine mächtige Staubwolke aufwirbelte. Mit einem Niesanfall stemmte er sich durch die Öffnung in einen saalähnlichen Spitzboden. Er tastete nach der Elektroleitung, mit der er heimlich die von der Straße über das Scheunendach zum Haupthaus führende Stromversorgung angezapft hatte, und knipste das Licht an.
    Das Bild, das sich ihm bot, war von grauslicher Seltsamkeit. Kostümierte Figuren saßen wie in einem Jahrmarktszelt auf rohen Brettern, mit großen Schattenflecken auf ihren Strohgesichtern und grinsten ihm entgegen. Im Sommer zuvor hatte er kindsgroße Puppen aus Heu und Stroh wie Vogelscheuchen mit abgelegten Kleidern kostümiert, die er den Bewohnern des Gutshauses aus ihren Schränken stibitzt hatte, und ein gespenstisches Publikum um sich herum versammelt, vor dem er sich nach jeder Vorstellung verbeugen konnte. Er brauchte nur die staubbedeckte Partitur aufzuschlagen, den Taktstock in die Hand zu nehmen und das Grammophon in Gang zu setzen.
    Doch dazu war in den folgenden Nächten noch genügend Zeit– den ganzen Sommer lang. Für den Moment hatte er genug gesehen. Er löschte das Licht, schloß die Falltür und nickte zufrieden: Niemand hatte während seiner Abwesenheit sein Versteck entdeckt!
    Gedämmt von meterdickem Stroh, hatte er sich unter dem Scheunendach einen schalldichten Konzertraum eingerichtet, in dem er ungestört die Partituren der Wiener Klassiker studieren konnte, um sie mit seinem eigenen » Orchesters« einzuüben, soweit sie schon auf Schallplatten zu haben waren. Umrauscht von der Musik, kontrollierte er jede seiner Gesten in einem mannshohen Spiegel. Dort stellte er sich in Positur, warf den Kopf zurück, sprang mit beiden Beinen in die Luft, sang lauthals mit, ließ die Haare wehen, stampfte mit den Füßen auf und schleuderte die Arme wie Dreschflegel durch die Luft, so wie er es seinem neuen Idol, dem Doktor Wilhelm im

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