Augenblick der Ewigkeit - Roman
überrascht zu haben, auf der anderen hatte er ein schlechtes Gewissen, wenn er daran dachte, was Franziska dazu sagen würde.
Pawel Sixta war zwei Jahre älter als er, hatte ein viel beachtetes Violin- und ein Klavierkonzert komponiert und trat, obwohl er nach einer Scharlacherkrankung ein geschädigtes Gehör hatte und fast blind war, allabendlich mit seiner Jazzkapelle im Luzerna-Ballsaal auf. Daneben schrieb er erfolgreiche Couplets und Chansons fürs Varieté und gehörte zugleich zu den führenden Köpfen der Prager Musikavantgarde. Er besuchte die Kompositionsklasse am Prager Konservatorium und hatte als Abschlußarbeit ein Oratorium nach Texten von Nerval für Sopran und Orchester im Stile Schönbergs komponiert. Am gestrigen Abend, beim Notenkopieren in seiner Dachstube, rückte er mit der Überraschung heraus, daß Karl die Uraufführung dirigieren solle. Es fehle nur noch ein geeigneter Konzertsaal.
Ein Konzert im Deutschen Casino kam wegen der tschechischen Texte nicht in Frage, und die Direktion des Savarins hatte abgelehnt, weil es sich um ein sogenanntes Studentenkonzert handelte. Das Mozarteum in der Jungmanngasse wurde renoviert, und der Urania-Saal war für den ganzen Winter ausgebucht. Sie überlegten, ob sie den Direktor des Nationaltheaters um den Kleinen Ballettsaal bitten sollten, als er mit dem Vorschlag kam, warum nicht gleich einen Saal im Obec n ´ y d ˚ um, dem Repräsentationshaus. Nicht den großen, den Smetana-Saal, aber vielleicht den Sladkovsky- oder den Gregor-Saal mit seinen etwa hundert Plätzen.
Er war so begeistert von der Vorstellung, in dem Jugendstil-Prachtbau als Dirigent zu debütieren, daß er in einem Anfall jugendlicher Überschwenglichkeit Franziskas goldenen Engel vom Nachttisch nahm und versprach, ihn gleich am nächsten Morgen im Pfandhaus zu versetzen, um die Miete für den Konzertsaal zu bezahlen. Mit seinen Fingern tastete Pawel über das kalte Metall und wog es lange abschätzend in seinen Händen, so daß Karl schon befürchtete, er würde sein Angebot ablehnen. Mit einem ironischen Lächeln gab er ihm die Figur zurück. » Aber mein Verehrtester, Sie hätten natürlich auch ohne diese Opfergabe meine Uraufführung dirigieren dürfen. Trotzdem nehme ich Ihr Angebot dankend an.«
Jetzt konnte er kaum mehr einen Rückzieher machen, ohne vor dem verehrten Freund als Möchtegern dazustehen. Er schaute verschlafen auf den Wecker. In zwei Stunden würde er sich mit Pavel am Altstädter Brückenturm treffen. Bevor er das Licht wieder löschte, blickte er die goldene Statuette noch einmal an. Der Engel lächelte still und schien nichts dagegen zu haben, für eine Weile im Safe eines Leihhauses zu verschwinden. Er hatte sie schon einige Male zum Pfandhaus Hurka hinter der Maria-Schnee-Kirche getragen, um seinen Wechsel aufzubessern. Doch jedesmal, wenn er mit knurrendem Magen vor dem Laden des Pfandleihers stand, mußte er daran denken, wie er wohl reagieren würde, wenn Franziska seine Mozartpuppe versetzte. Dann schämte er sich, machte kehrt und schnallte seinen Gürtel enger.
Seit knapp zwei Jahren studierte er am Prager Konservatorium und hatte den Monatswechsel der Wiener Musikfreunde, der ihm von Professor Tschryska ausgehändigt wurde, oft schon in der Monatsmitte für Notenmaterial, für Opern- und Konzertbesuche aufgebraucht. Aber er wagte es nicht, den gestrengen Kurator seiner Geldangelegenheiten um einen Vorschuß anzugehen. Lieber hungerte er sich zu Tode.
Professor Tschryska gehörte zu jenen Deutschenhassern, die nach dem » Umsturz«, wie die Proklamierung des tschechischen Nationalstaates nach dem Weltkrieg genannt wurde, mit panslavistischen Gesinnungsgenossen auf die Straße geeilt waren und die österreichischen Doppeladler von den Amtsgebäuden heruntergerissen, die blau-weiß-rote Fahne gehißt und deutschsprachige Passanten auf der Strasse verprügelt hatten. Die Symbiose der tschechischen, der deutschen sowie der jüdischen Kultur, Prags » dreifache Seele«, war seit jenem » Umsturz« nahezu dahin, und keine der Seiten war bereit nachzugeben. Der tschechische Chauvinismus stand dem deutschen Nationalismus in nichts nach, und die jüdischen Bürger wurden zwischen beiden Blöcken aufgerieben, sofern sie es nicht vorgezogen hatten, ins Exil zu gehen.
Keiner hatte ihm soviel Angst eingejagt wie dieser cholerische Pädagoge. Zweimal in der Woche mußte er bei ihm zu Hause zum Privatunterricht antreten, unermüdlich Tonleitern üben und sich
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