Augenblick der Ewigkeit - Roman
nach einer gut verlaufenen Unterrichtsstunde, darf ich ihm seine Noten nach Hause tragen und manchmal in den Proben als Korrepetitor aushelfen. Vielleicht klappt es sogar mit Brünn! Er ist kein Deutschenhasser wie so mancher andere hier. Sein Abgott heißt Richard Wagner, was ihm sein enger Freund Professor Jan á ˇ cek verübelt. Aber was beide miteinander verbindet, ist stärker: der unbedingte Wille zu künstlerischer Hochleistung, was mir besonders gut gefällt. Neumann ist ein großartiger Lehrer. Er bringt uns bei, die Musik als etwas räumlich Begrenztes zu beschreiben, sie durch den eigenen Körper sichtbar werden zu lassen. Sein Unterricht grenzt manches Mal an tänzerische Gymnastik oder Schattenboxen. Und dann sein unnachahmliches Kauderwelsch: › Sie missen gewähltes Tempo exakt koordinieren mit Einatmen von Luft in Lunge, wie Kampfkunst japanische uns belehrt. Einatmen und bum. Arme fallen lassen und bumbum…‹«
Er war schon fast wieder eingeschlafen, als er von einem Dutzend Böllerschlägen aufgeschreckt wurde, deren Echos den Laurenzi-Berg heraufrollten und die Fensterscheibe zittern ließen. Der Winter war so streng, daß die Moldau zugefroren war. Fast jeden Morgen mußte man vor Sonnenaufgang flußaufwärts das ineinander verkeilte Packeis sprengen, um die Pfeiler der Karlsbrücke vor der Eispressung zu schützen. Er stand auf und knipste die Nachttischlampe wieder an. Mit den Detonationen draußen und dem nagenden Gefühl im Bauch konnte er unmöglich weiterschlafen. Er suchte nach Franziskas Fotografie, die sie einem ihrer letzten Briefe beigelegt hatte.
Eine Zeitlang betrachtete er ihren schwarzhaarigen Bubikopf und wie sie ihn mit dunklen Augen verführerisch zu mustern schien. Aber je länger er ihr Bild anschaute, um so fremder wurde sie ihm. Er schloß die Augen und versuchte, sich an ihren schlanken Körper zu erinnern, an das weiße Leinenkleid, mit dem sie damals zu ihm in die Bibliothek gekommen war und er sie mit ihrer Leica fotografiert hatte. Aber wie auf einem Palimpsest, in dem das ursprüngliche Bild von einem zweiten überlagert wird, taugte ihre Person nur noch zur Folie jener Schwärmerei, die sich mit Macht in den Vordergrund seines gegenwärtigen Lebens geschoben hatte und an die er wieder mit Herzklopfen denken mußte.
» Er ist auffallend schön, mittelgroß, kräftig gebaut, ohne stämmig zu sein. Er hat braune Haare und sehr gepflegte Hände. Er trägt eine Brille mit dicken Gläsern, und wenn er lächelt, nimmt sein Gesicht manchmal einen fast spöttischen Ausdruck an. Er heißt Pawel Sixta. Er würde Dir gefallen. Seine Blindheit gleicht der einer antiken Statue, die mit offenen Augen in jahrhundertelanger Konzentration aufs glitzernde Meer hinausgestarrt hat, ohne jedoch jenen seelenlosen Ausdruck zu haben, der antiken Statuen mit ihren augensternlosen Augen eigen ist. Wenn er am Klavier sitzt und spielt, bewegen sich seine Lippen, als würde er jede einzelne Note beschwören, und wenn er spricht, hebt er den Kopf nur leicht wie jemand, der mit dem, was er sagen will, nie ganz das Gesicht des anderen erreicht. Als er mir zum ersten Mal gestattete, ihn in der Kaprova abzuholen, klopfte mir das Herz im Hals. Jetzt sag nur ja nicht, ich bin verliebt in ihn! Ach, und wenn es denn so wäre? Ich schwärme ganz einfach für ihn. Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein, mein Fränzchen. Es ist eine andere Schwärmerei als bei Dir. Ich verehre ihn, weil ich spüre, daß er mir überlegen ist und nicht nur alles weiß, sondern auch wunderbare Lieder nach Gedichten von Nerval komponieren kann. Ich bin so stolz darauf, einem Freund gegenüber zu solchen Gefühlen fähig zu sein…«
Er war peinlich aufrichtig und schilderte ihr ohne Vorbehalt seine geheimsten Gefühle für den neuen Freund. Als sie ihm antwortete, war er sich nicht sicher, ob sie sich nicht lustig über ihn machte.
…also, mein Liebster! Als ich heute morgen Deinen Brief im Postamt abholte und mich am Ring in ein Kaffeehaus setzte, um ihn ungestört lesen zu können, ertappte ich mich bei dem Gedanken, in den nächsten Zug zu steigen und Dir und Deiner Schwärmerei heimlich nachzuspionieren. Ich weiß so wenig über die Geheimnisse der Sexualität, und alles, was ich bei Sigmund Freud darüber gelesen habe, macht mir angst. Dann frage ich mich, ob ich nicht etwas von einem Vampir an mir habe, daß ich mich so an Dich klammere. Du bist ein Teil meines Lebens, und ich habe kein anderes, das ich mit Dir
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