Augenblick der Ewigkeit - Roman
ermahnen lassen, geläufiger vom Blatt zu spielen. Er mußte sich mit zweitklassigen tschechischen Komponisten herumschlagen, böhmische und mährische Volksweisen einstudieren und sich statt mit Bach, Beethoven oder Chopin mit Hummel, Kalliwoda und Ignaz Moscheles auseinandersetzen. Alles, was der Professor ihm beizubringen vermochte, war, verglichen mit dem, was er am Wiener Konservatorium gelernt hatte, ein Rückschritt, und wenn seine Finger beim Unterricht über die Tasten huschten, kam er sich vor, als müsste er einem Riesen die gelben Zähne putzen.
Ständig gab es Streit, und meistens ging’s dabei ums Geld. Für alle Unternehmungen verlangte der Professor akribisch Rechenschaft, versuchte soviel wie möglich aus seinem Mündel herauszuschlagen. Statt ihn, wie vereinbart, bei sich aufzunehmen, hatte er ihn unter einem Vorwand auf die Kleinseite abgeschoben, dem jenseitigen Ufer der Moldau, wo es billiger war und in der Mehrzahl Tschechen aus ärmeren Schichten lebten. Dort, in der möblierten Absteige unterm Dach des Flickschusters Husak, hatte er ihn eingemietet, in der es weder fließendes Wasser noch einen beheizbaren Ofen gab und wo das Plumpsklo drei Stockwerke tiefer auf der gegenüberliegenden Seite des Hinterhofs lag.
Sein Magen knurrte wie ein Hund, und ihm fiel ein, daß er seit Tagen nichts mehr Richtiges gegessen hatte. Er schloß die Augen und versuchte, an Franziska zu denken. Sie hatte unter dem Namen Olga Silberschein ein Postfach beim Wiener Hauptpostamt eröffnet, wohin Karl seine Briefe adressierte. Im ersten Jahr war es ihnen gelungen, sich heimlich in Preßburg zu treffen, das Franziska von Wien aus mit der Stadtbahn erreichen konnte. Die heimlichen Begegnungen waren eher enttäuschend gewesen. Eigentlich hätten sie glücklich sein müssen, aber sie fühlten sich irgendwie schuldig und beschlossen, sich vorerst nicht wiederzusehen.
Statt dessen schrieben sie sich regelmäßig Briefe und schickten sich ihre neuesten Fotografien. Denn beide glaubten fest daran, daß die erzwungene Trennung nur vorübergehend war. Manchmal schrieb er ihr jede Woche, manchmal einen ganzen Monat nicht. Mal waren seine Briefe umfangreicher, mal kürzer, aber die Korrespondenz bewies Beharrungsvermögen und Beständigkeit in ihrer Beziehung, die sich unmerklich gewandelt hatte. In einer Art Idealisierung hatte er sich Franziska neu erfunden mit dem Erfolg, daß sie für ihn jetzt weniger als reales Wesen existierte. » …wenn ich Dir heute schreibe, habe ich das Gefühl, daß ich Dir auf dem Papier viel näher bin als damals in dem Bootshaus, als es regnete. Wie kann das sein?«
Nicht daß er im Begriff war, sie zu verlieren. Ihr Bild erfuhr lediglich eine Wandlung, als es auf dem Briefpapier neue Gestalt annahm und er ihr aus der Entfernung in seinen Briefen wie jemandem sehr Vertrauten alle Erlebnisse und Kümmernisse anvertrauen konnte. Sie wurde zu seiner intimsten Ratgeberin und einzigen Quelle, aus der er schöpfte. Um ihren Ansprüchen zu genügen, hatte er seinen Frieden mit dem Hofrat geschlossen und strengte sich auf dem Konservatorium beim Klavierunterricht besonders an. Er studierte alles mögliche und auch oft manches Überflüssige, allein um ihr von seinen Fortschritten berichten zu können und dafür gelobt zu werden.
» …daß Papa Dir jetzt gestattet, bei Albin Sima statt bei dem scheußlichen Professor Tschryska zu studieren, und Dir Franti s ˇ ek Neumann das Dirigieren beibringt, macht mich besonders stolz. Du wirst es ihm schon zeigen. Verlier Dein großes Ziel nicht aus den Augen, hörst Du, mein Karel! Und versuche vor allem, den Dirigenten für Dich zu gewinnen. Vielleicht nimmt er Dich mit, als Assistent ans Opernhaus in Brünn. Ich habe erst neulich im Feuilleton gelesen, daß er mit den Prager Symphonikern dort die Uraufführung von Jan á ˇ ceks neuester Oper › Das schlaue Füchslein‹ dirigiert haben soll. Der Kritiker der Aufführung beschrieb ihn als einen Künstler von lebhaftem Temperament, der eine suggestive Wirkung auf sein Publikum erzielt. Jetzt frage ich mich, nein Dich, inwieweit hat er recht damit gehabt?«
» …das mit der suggestiven Wirkung ist ein wenig übertrieben, wenn man ihn mit unserem Doktor Wilhelm vergleicht. Aber er ist sehr beliebt, nicht nur beim Publikum, sondern auch bei seinen Studenten. Er kümmert sich um jeden einzelnen von uns. Besonders mich scheint er ins Herz geschlossen zu haben, nachdem ich Deinem Rat gefolgt bin. Gelegentlich,
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