Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Augenblick der Ewigkeit - Roman

Titel: Augenblick der Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
Vom Netzwerk:
Schneewolke über sie hinwegfegte.
    Inzwischen war es heller geworden. Rosige Nebelschwaden lagen über der Moldau, die von einer fast geschlossenen Eisdecke bedeckt war. Nur dort, wo flußaufwärts hinter der Schützeninsel die Eissprengungen in der Morgendämmerung einige schmale Rinnen aufgebrochen hatten, schwammen Eisschollen wie träge dahintreibende Fettaugen flußabwärts, rutschten klirrend über das Eisenwehr, ein milchiggrauer Gletscherstreifen, der sich von der Südspitze der Kampa zum Franzenskai quer über den Fluß erstreckte, und zerbrachen an den scharfkantigen Balken der Eisbrecher, die den Brückenpfeilern vorgelagert waren.
    Die ersten Sonnenstrahlen schossen mit gebündelter Kraft über die Dächer der Altstadt, wärmten die Sandsteinfassade des alten Judithturms, so daß im Nu die Rauhreifkristalle auf ihr zu schmelzen begannen, leckten am Ufer der Kleinseite an den bizarren Strukturen aufgetürmter Eisschollen, die das weiße Licht mit ihren scharfen Spitzen und Kanten in ein Farbenspiel aus violetten, blauen, grünen, gelben und roten Tönen zerlegten.
    Ein Entengeschwader flog von der Sophien-Insel herein. Die Vögel setzten zur Landung an und schlitterten einige Meter übers Eis, bis sie bei den Bleßhühnern und Möwen zum Stillstand kamen, die von einer Frau gefüttert wurden. Die Alte tastete sich mit ihrer Tüte vorsichtig übers Eis. Er sah ihr von der Brücke aus eine Weile zu, wie sie ihre Brotkrumen verstreute, und mußte wie unter Zwang an das Frühstück denken, das er sich mit Pawel Sixta im Café Slavia genehmigen würde, wenn erst einmal die Bankgeschäfte erledigt waren. Er hatte noch Zeit. Die Schalter öffneten frühestens in einer Stunde. Er tastete nach dem goldenen Engel, der schwer in seiner rechten Manteltasche hing, und nickte zufrieden.
    An diesem Morgen hatte er keine Augen für die Schönheit der Sandsteinfiguren, die, von einer Reifschicht überzogen, wie frisch behauen das Brückengeländer säumten. Der heiligen Luitgard, die in ihrem ausgehöhlten Sandsteindiorama kniete, gönnte er nur einen flüchtigen Blick. Schnee lag auf ihren Augenlidern und bedeckte ihre Brüste und die Ketten, mit denen ihre betenden Hände gefesselt waren. Er kannte jeden der Heiligen beim Namen, und es war eine seiner besten Nummern bei den Kommilitonen, in rascher Folge ihre gespenstischen Verrenkungen zu imitieren, wie sie anbetend in die Knie sanken, mit schief gelegtem Kopf auf dem Boden rutschten, mit abgespreizten Fingern zum Himmel deuteten, die Hand zum Schwur erhoben oder mit langem Hals und vorgeneigtem Kopf beschwörend auf die Passanten hinunterschauten. Er hielt unter ihren Blicken den Kopf gesenkt, um sich ganz auf den Rhythmus seiner Schritte zu konzentrieren, mit denen er über die Brücke tanzte.
    An der Kreuzigungsgruppe über dem vorletzten Brückenjoch blieb er stehen. Hier hatte er sich mit Pawel verabredet. Er stützte sich mit beiden Händen auf den Oberschenkeln ab und rang nach Luft. Als sich sein Atem ein wenig beruhigt hatte, hörte er Kinderstimmen, und dazu erklangen Töne, gemischt mit fremdartigen Geräuschen. Sie kamen vom Fluß unterhalb der Brücke aus einem der gemauerten Jochgewölbe, das die Klänge wie ein Lautsprecher verstärkte. Er beugte sich über das Brückengeländer, lehnte sich weit hinaus, bis seine Schuhspitzen über der Straße baumelten und er hinunterblicken konnte.
    Pawel hockte auf dem Eis, umgeben von ein paar schlittschuhlaufenden Kindern. Mit zwei Holzstöcken entlockte er einem überdimensionalen Xylophon verschieden dicker Eisblöcke ganze Tonfolgen von Quinten, Quarten und Terzen. Die wohltönenden Akkorde mischten sich mit den dissonanten Geräuschen aneinanderschabender Eisschollen, die sich unter den Jochen ineinander verkeilt hatten, zu einem mehrstimmigen Klanggebilde.
    Die Trümmer eines Landungsstegs und einiger, vom Eisgang zusammengepreßter Ruderboote steckten festgefroren in einer durchsichtigen Eisdecke, die sich über der Mündung eines Stadtkanals hob und senkte wie eine riesige schwimmende Membrane, auf der sich die gewaltigen Spannungskräfte der Eismassen mit jaulenden Knack- und Reißgeräuschen in alle Richtungen entluden. Die höheren Frequenzen der Töne, die von der Eisfläche schneller übertragen wurden als die tieferen, klangen wie ein ins Bodenlose abfallendes Glissando, als würde ein Kontrabaßspieler, der die E-Saite angerissen hat, mit angepreßtem Finger auf dem Griffbrett vom Steg hinauf zum

Weitere Kostenlose Bücher