Augenblick der Ewigkeit - Roman
Sattel gleiten.
Dazu klingelten und klirrten Myriaden zerkleinerter Eisstücke an den Fundamenten der Brückenmauer wie ein von einer Riesenhand geschüttelter Kronleuchter, während die Kinder auf Pawels Zeichen dicke Eisbrocken in synkopischer Verschiebung zur Taktfolge auf das Eis plumpsen ließen.
» Po ž or, P awel! Paß auf…«
Denn hinter Pawel, wo der Stadtkanal mündete, war das Eis milchigweiß. Die ausgewaschene Eisdecke schwamm kaum mehr auf der Wasseroberfläche, sondern wurde nur noch vom Ufer gehalten. Warmes Kanalwassers floß durch die Labyrinthe brüchiger Hohlräume, quoll aus einer Eisspalte, die sich bis zum ersten Brückenpfeiler aufgetan hatte, und ergoß sich über die ganze Fläche, bis es zu Eisbrei gerann und gefror.
» …was machst du da unten?«
Pawel legte den Kopf schief und richtete seine fast blinden Augen zu ihm hinauf. » Hör nur, wie fremdartig diese Sphärenmusik klingt, Karel! Ich werde sie in meiner nächsten Komposition verwenden! So was hat noch keiner vor mir gemacht…«
» Komm rauf! Da ist es viel zu gefährlich…«
» …eine Art Naturmusik! Töne und Klänge, die nur im Zusammenhang mit gefrorenem Wasser entstehen. Wir sollten hier unten Stühle aufstellen und Eintritt nehmen!«
» …oder warte, ich komme runter, dich holen.«
An der Kaimauer unterhalb des Franzensmonuments führten Stufen zu einer Rampe, über die man zur Basis des Brückenpfeilers gelangen konnte.
» Bleib, wo du bist, Karel, und hör gefälligst zu! Die Kinder haben mir runtergeholfen, die bringen mich auch wieder rauf.«
Er trommelte aufs Eis, unbeirrbar wie ein kleiner Junge auf seine Trommel, ohne auf die Gefahr zu achten, die sich um ihn herum angekündigt hatte. Das Krachen unter seinen Füßen wurde immer bedrohlicher. Plötzlich ein Geräusch, als würde eine Stahlsaite reißen. Das Eis, auf dem er hockte, schwankte. Die Kinder flüchteten auf ihren Schlittschuhen zum rettenden Ufer.
Dann ging alles ganz schnell. Karl hatte das Unglück kommen sehen und rannte los. Er hörte die Schreie der Kinder, die dem Verunglückten einen Rettungsring zuwarfen. Sie mußten vergessen haben, daß Pawel fast blind war. Als er unten an der Rampe angekommen war, sah er gerade noch, wie Pawels Kopf im Wasser untertauchte und sich eine Eisscholle darüberschob. Die Zeitungen sprachen am nächsten Tag von einer Verkettung unglücklicher Umstände, die zu dem Unfall geführt hätten.
Ein betäubender Schlag hatte sein Herz getroffen, und er fühlte einen entsetzlichen Schmerz, als wäre etwas in ihm gerissen, als müsste er selber sterben. Er hatte zusehen müssen, wie Pawel ertrunken war. Alles, was er fühlte, war ein Grauen vor der sinnlosen Vernichtung dieses jungen Lebens, ein Riß, eine Wunde im Herzen, die so weh tat, daß er jede Erinnerung daran scheute. Lange Zeit wagte er kaum mehr, seinen Kommilitonen in die Augen zu schauen. Er mied die Freunde, mied alles, was mit dem toten Freund in Zusammenhang stand. Er hatte das Empfinden, daß das, was er mit angesehen hatte, nicht in Worten auszudrücken war, und als er endlich versuchte, seine Gefühle in Musik zu fassen, wurde ihm bewußt, daß er das Talent nicht hatte, für Pawel ein Requiem zu schreiben. Das war ein weiterer Schock für ihn. Nach langer Zeit schrieb er Franziska wieder einen Brief. Er teilte ihr mit, daß er Prag verlassen würde, um seinem Mentor Franti šek Neumann an die Brünner Oper und ans dortige Konservatorium zu folgen.
» …schon als Kind begriff ich, daß die Musik mein Leben bestimmen wird. In ihr gründet mein ganzes Sein, selbst wenn ich sie nur nachempfinden kann. Sie ist meine eigene Welt, meine Zuflucht und mein Himmel, den mir niemand nehmen oder schmälern kann, auch nicht in dieser schrecklichen Zeit, in der ich existieren muß. Daß Musik überhaupt in der Welt ist, daß Menschen von ihren Harmonien durchflutet werden, ist für mich in all dem Elend hier ein tiefer Trost.«
Monte Carlo, Nizza – Donnerstagnachmittag
Maria hörte auf zu lesen und hob den Kopf. Jemand hatte unten in der Empfangshalle den Privatlift in Bewegung gesetzt, der direkt ins Penthouse der Universal Music s.a.r.l. führte. Sie hörte, wie die Kabine nach unten glitt, und sammelte in aller Eile Franziskas und Karls Briefe, die verstreut auf dem Boden lagen, wieder ein. Sie hörte, wie der Lift unten anhielt, um gleich darauf ins oberste Stockwerk zurückzukehren. Die Lifttür öffnete sich. Sie hörte Schritte. Die
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