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Augenblicke Der Geschichte - Das Mittelalter

Titel: Augenblicke Der Geschichte - Das Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guenther Bentele
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Bauleute noch im Oktober von einer Säule zur nächsten gezogen hatten, wie einen steinernen Gurt, der das spätere Gewölbe befestigen würde. Dazwischen stand der graue Novemberhimmel. Der König ließ seinen Blick den Bogen entlangwandern: »Kein Riss! Du redest Unsinn.«
    Hier durften nicht auch noch Risse sein! Nicht hier! Der Bau dieser Kirche in Speyer war der Mittelpunkt seines Reiches! Hier wurde die Macht seiner Familie sichtbar in der steinernen Form, die seit Jahren zum Himmel aufstieg -
    Der Waffenknecht musterte den König. Es war unerträglich.
    Der König trat erneut einen Schritt vor. Der Kerl war nicht einfach nur ein Flegel, wahrscheinlich sah er in ihm schon nicht mehr den König, wie fast alle, vielleicht war es schon so weit -
    Er ließ seinen Blick über die Leibwache streifen: Kein Wimpernzucken. Steinern die Gesichter. Diese scheinbare militärische Gleichgültigkeit.
    Der Bewaffnete erhob wieder seine Stimme: »Ich kenne mich da aus.«
    Heinrich war unsicher. Er müsste den Knecht wirklich bestrafen lassen, und zwar streng; aber vielleicht auch nicht zu streng -
    »Ihr könnt es mir glauben«, sagte der Mann, und sein Benehmen wurde immer unerträglicher. »Wenn die Risse nicht geflickt werden, fällt alles ein.«
    Wie Recht du hast, dachte der König, freilich fällt alles ein; es hat ja schon angefangen. Er machte einen weiteren Schritt auf den Mann zu, zögerte dann aber. Man muss Abstand halten zu seinen Untertanen: Abstand zu den Untergebenen - das ist das Wichtigste beim Herrschen, sonst machen sie mit dir, was sie wollen. Er war elf oder zwölf gewesen, als das zu ihm gesagt worden war.
    »Genug davon«, sagte er jetzt zu dem Mann, fragte dann aber gegen seinen Willen weiter: »Woher weißt du das alles?«
    »Mein Vater ist Steinmetz«, die Stimme blieb dieselbe. »Ich habe oft -«
    »Genug davon, habe ich gesagt.« Und nach einer Pause: »Wo lebt er denn, dein Vater?«
    »Er lebt nicht mehr«, antwortete der Mann.
    »Und wo hat er gelebt?«
    »In Schwaben.«
    Warum eigentlich rede ich mit diesem Kerl? »Warum bist du nicht auch ein Steinmetz geworden?«
    »Mein Bruder ist Steinmetz.«
    »Und dein Bruder ist auch in Schwaben - ihr versteht euch gut?«, stellte der König fragend fest.
    Der Mann schaute auf den Boden. »Was ist mit deinem Bruder? Warum ist er nicht hier auf meinem Bau?«
    »Herr!« Er schwieg.
    »Der Bann?«
    Der Mann nickte.
    »Und du?«, fragte der König.
    »Ich diene Euch«, sagte der Mann, »sonst wäre ich nicht hier.« Das kann jeder sagen, dachte der König, und doch ein Verräter sein. Aber wer will es einem verdenken, dass er nicht in die Hölle kommen will -
    »Und du fürchtest dich nicht?«
    »Doch, Herr«, sagte der Mann nach kurzem Zögern.
    »Und?« Und ich?, dachte der König. Fürchte ich mich nicht auch vor der Hölle?
    Der Mann bewegte seinen Spieß: »Ihr werdet Euch lösen«, sagte er leise.
    So?, dachte der König. Und wie?
    »Der Riss«, sagte er laut, »zeig mir den Riss.«
    »Dort oben, wo die Krümmung beginnt, da fängt er an. Und er geht bis in den Scheitel des Gewölbes hinein.« Sein Blick blieb auf den König gerichtet: »Und ein zweiter läuft aus der Leibung heraus, dorthin, wo die Last aufgefangen wird.«
    Scheitel des Gewölbes, Leibung, Last aufgefangen wird. Belogen hat er mich nicht über seine Herkunft, dachte der König. Einer, der nicht lügt - das ist schon viel.
    »Seht Ihr ihn?« Der Wächter war jetzt ganz nahe an den König herangetreten. Ein weiterer Bewaffneter löste sich aus der Leibwache und ging auf die beiden zu, die Hand am Schwert.
    Der König sah es aus den Augenwinkeln und winkte dem zweiten Wächter zu bleiben. Er spürte, wie sein Herz schlug - kein gewöhnlicher Mensch hatte das Recht, sich seinem König so sehr zu nähern. Er kniff die Augen zusammen und sah nach oben und sah nun auch deutlich die beiden Risse und noch weitere. Dünn wie die Beine von Spinnen fingerten sie sich in die Säulen, Gewölbe und Wände hinein. Sie waren zackig geformt und folgten den Rändern der roten Sandsteine.
    »Und das an einem Neubau!«, stellte der König fest.
    Der Mann schwieg.
    Der König winkte ihm, sich zu entfernen.
    Dann rief er ihn doch noch einmal zurück: »Was sagst du deinem Bruder, wenn du ihn siehst?«
    »Herr, ich werde ihn nicht sehen -«
    Er winkte den Mann endgültig aus seiner Nähe.
     
    »Man muss die neuen Mauern reparieren!«, sagte er am Abend vor dem Kamin zu Rüdiger Hutzmann, dem Bischof von

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