Augenblicke Der Geschichte - Das Mittelalter
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HELMBRECHT
Im 13. Jahrhundert, wir wissen es bereits, herrschte in Deutschland große Unordnung - die kaiserlose Zeit. Schwache Könige konnten ihre Macht nur unvollkommen durchsetzen; schließlich verfiel die staatliche Macht auf zwanzig Jahre ganz. Das Faustrecht ersetzte das öffentliche Recht. Mord und Totschlag herrschten auf den Straßen, Witwen und Waisen wurden rücksichtslos bestohlen, Räuberbanden machten Handel und Wandel unsicher. Gerade der Ritterstand tat sich hier besonders unrühmlich hervor: Anstatt die Armen und Schwachen zu beschützen, wie es Aufgabe der Ritter gewesen wäre, verkehrten sie ihre Tätigkeiten, nutzten ihre militärischen Kenntnisse und wurden zu Raubrittern. In Saus und Braus an ihren Höfen lebend, auf ihren Burgen, erhielten sie Zulauf von Bauern, die solches Räuberleben mit höfischer Lebensart verwechselten.
In dieser Zeit hat der Dichter Wernher der Gartenaere in mittelhochdeutschen Reimen die Geschichte von Helmbrecht, dem Bauernsohn, geschrieben, einem jungen Mann, den es zu den Rittern zieht.
Für uns heute nicht nur eine spannende Geschichte, sondern auch eine kostbare Quelle zum Alltag und zum Werteverfall der Zeit. So wird nämlich das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus der Bibel auf den Kopf gestellt, in einer heute sehr modern anmutenden Weise. Wernher der Gartenaere zeigt aber auch die große Sehnsucht und Hoffnung der Menschen auf die Gerechtigkeit im mythischen Bild des unüberwindlichen Richters, der mit seinen Schergen wiederherstellt, was aus dem Lot gekommen ist: Recht und Sicherheit.
Diese Geschichte wird hier zum Teil übersetzt, zum Teil bearbeitet und neu erzählt.
Der eine erzählt, was er sieht, der andere, was ihm wider-fährt, der Dritte ist bewegt von Liebe, der Vierte von Geschäften, der Fünfte von Reichtum, der Sechste berichtet von großen Taten. Hier will ich sagen, was ich mit eigenen Augen gesehen habe - nämlich wie Menschen alles zerstören können, was ihnen lieb und wert ist.
Im Grenzland zwischen Bayern und Österreich lebte bei Hohen-stein und Haldenberg auf seinem Hofe ein reicher Meier mit dem Namen Helmbrecht. Schon sein Vater hatte Helmbrecht geheißen und auch sein ältester Sohn trug diesen Namen. Er war der Stolz der Eltern und würde den Bestand der Familie fortsetzen; er würde dereinst die Eltern begraben und für ihr Seelenheil beten -
Ihre ganze Liebe wandte die Mutter an diesen Sohn, denn ihr Ehegatte war ein harter Mann, der Zärtlichkeiten weder annehmen noch schenken konnte. Der Sohn aber wurde für die Mutter Herz-blatt, Liebling, Augapfel, Schatz, Juwel - sie vergötterte ihn. Auch seine Schwester Gotelinde himmelte Helmbrecht an, denn er wuchs zu einem Jüngling von ungewöhnlicher Schönheit.
Der Vater wiederum sah, wie der Junge von Mutter und Schwester täglich mehr verwöhnt und verzärtelt wurde. Er presste die Lippen zusammen, dass sie schmal wurden wie Sicheln - und schwieg. Für ihn, den harten Mann, gab es nur Ordnung und Recht, Pflicht und Gehorsam, und so erfuhr Helmbrecht von seinem Vater unerbittliche Strenge, schlimmer als man einem Hund zusetzte. Diese Härte war, ohne dass zwischen den Eheleuten je ein böses Wort gefallen wäre, auch gegen die Bäuerin gerichtet.
Verhätschelt also von Kindheit an und verschreckt durch die Strenge des Vaters, sah der verwöhnte junge Mann nur sich selbst, und seine Gedanken galten nur seiner eigenen Person. Morgens, wenn er sich wusch, verbrachte er sehr lange Zeit damit, sich im Wasserspiegel des Brunnens zu bewundern.
Selbstverständlich trug Helmbrecht keine gewöhnliche Kleidung: Die Mutter hatte ihren Sohn nur mit dem Besten ausgestattet, mit der wärmsten Wolle und dem feinsten Leinen; seine Kleidung war viel kostspieliger als die seiner Mutter oder seiner Schwester Gotelinde. Die Mutter hatte Helmbrecht, als er volljährig wurde, auch mit Waffen ausgerüstet - als den Ritter, den sie in ihm sehen wollte: mit einem edlen Schwert, einem kostbaren Dolch und einem Kettenhemd, das ein Vermögen wert war. »Dein Erbteil von meiner Seite!«
Auch Gotelinde hatte ihn reich beschenkt: mit Leinenstoff, den sie für ihn hatte fertigen lassen, so fein, dass beinahe sieben Weber davongelaufen waren, bevor das Linnen fertig wurde.
Das Ungewöhnlichste an Helmbrecht war sein langes, blondes, lockiges Haar, das ihm vom Scheitel hinab bis auf die Fersen fiel. Um dieses Haar darin zu fangen, hatte ihm die Mutter als Krönung der ungewöhnlichen
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