Augenblicklich ewig
hier begegnet sind. Ich arbeite gelegentlich hier.«
»Ich bin erst vor einer Woche aus Berlin hergezogen«, erklärte Sam.
»Aus Berlin? Was hat dich dazu bewogen, nach Köln zu ziehen? Berlin ist doch die viel interessantere Stadt.«
»Du«, antwortete Sam, ohne zu zögern.
Polly, die gerade noch hatte fragen wollen, wie er an eine der begehrten Wohnungen in dieser guten Lage gekommen war, blieb der Mund offen stehen. »Ich?«
Sam schien aufzufallen, wie sehr seine Antwort sie verunsicherte. Sie meinte, ein kleines ungläubiges Lächeln in seinen Mundwinkeln zu erkennen, bevor er kaum merklich den Kopf schüttelte und sagte: »Ich meine natürlich der Job. Ich wollte mit dir arbeiten.«
Auch diese Antwort erschien Polly nicht weniger sonderbar. Wer zog für einen gemeinsamen Auftrag mit ihr in eine andere Stadt? Gleichzeitig fiel ihr jedoch wieder ein, was Thomas ihr am Telefon gesagt hatte. Sam hatte ausdrücklich um dieses Engagement gebeten. Wer war dieser Mann? Er konnte ebenso gut gefährlich sein oder einfach verrückt. Eigenartigerweise beunruhigte Polly dieser Gedanke überhaupt nicht. Sie fühlte sich gut in Sams Nähe: Nervös und aufgewühlt, aber wohl.
Dennoch fragte sie: »Warum?«
»Ich habe dein Interview mit dieser Rockband aus Las Vegas entdeckt und da wusste ich sofort, ich muss dich kennenlernen. Du siehst die Menschen auf die gleiche Weise wie ich«, setzte er nach, als er Pollys verständnislosen Gesichtsausdruck bemerkte. »Der Artikel wäre mit einem meiner Bilder besser gewesen als mit den Fotos, die die Zeitschrift verwendet hat. Kompletter.«
Die Bilder. Von seinen bisherigen Worten völlig abgelenkt, fielen Polly nun endlich wieder die Fotos ein, über die sie mit Sam hatte reden wollen.
»Deine Bilder sind wundervoll«, stellte sie fest, obwohl sie dabei klang wie ein verliebter Teenager. Es entsprach der Wahrheit. Die Fotos, die er ihr geschickt hatte, waren großartig.
»Danke, ich wusste, sie würden dir gefallen. Du hältst die Menschen in deinen Artikeln so fest wie ich auf Bildern. Du siehst die Person hinter der Fassade.«
»Ich gebe mir Mühe, aber ich bin immer auf das angewiesen, was die Menschen mir sagen. Du hast sichtbar gemacht, was der Politiker verschwiegen hat. Das ist ein riesiger Unterschied.«
Sam schwieg. Ein Lächeln umspielte seine Lippen und ließ ihn viel weniger verschlossen und beinahe jungenhaft wirken. Polly musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu seufzen. Er sah großartig aus. »Was ist dein Geheimnis?«, fragte sie.
Sam riss überrascht die Augen auf.
»Ich meine, wie schaffst du es, den wahren Charakter einzufangen?«
Sam atmete hörbar durch. Etwas schien ihn zu beunruhigen. Als er den Blick wieder auf sie richtete, antwortete er völlig gefasst: »Ich fotografiere schon lange, sehr lange. Im Grunde ist es einfach. Ich warte auf den einen Moment. Den Augenblick, in dem mein Gegenüber die Maske für ein paar Sekunden fallen lässt, weil er glaubt, ich sehe nicht hin, weil er sich gerade die Kleidung oder die Haare ordnet oder sich nach etlichen Fotos nicht mehr so gut unter Kontrolle hat wie zu Beginn des Shootings. Dann drücke ich ab.«
»Das klingt kein bisschen einfach. Wie bist du zum Fotografieren gekommen?«
»Ich fotografiere schon, so lange ich denken kann. Meine Eltern sind früh gestorben, und als ich unser Haus verlassen musste, um zu meinem Onkel zu ziehen, habe ich alles fotografiert, damit ich es besser in Erinnerung behalten kann. Die Fotos habe ich mir nie wieder angesehen, aber das Fotografieren seither nicht aufgegeben.«
Polly bedauerte den Tod von Sams Eltern, obwohl sie ihn erst seit zwei Tagen kannte. »Es tut mir leid, dass du deine Eltern verloren hast. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es ist, ohne Eltern aufzuwachsen«, sagte sie.
Sam, der eben den Zucker in seinem zweiten Kaffee verrührt hatte, riss abrupt den Kopf hoch. »Deine Eltern leben noch?«, fragte er und klang dabei ebenso überrascht wie erschrocken.
»Ja, sie wohnen in den USA, in Chicago. Dort bin ich aufgewachsen.« Polly hatte keine Ahnung, womit sie ihm so einen Schreck einjagt hatte. Vielleicht hatte er den Tod seiner Eltern bisher nicht verkraftet?
Sam sprang so heftig auf, dass sein Stuhl beinahe nach hinten gekippt wäre. »Entschuldige mich bitte kurz«, sagte er und ging in Richtung Ausgang.
Polly hörte, wie er im Weggehen ‚Das kann nicht sein‘ murmelte. Den Sinn dahinter verstand sie jedoch nicht. Sie schaute ihm nach.
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