Augenblicklich ewig
vorgegebene Wortzahl für den Artikel einzuhalten, würde sie das Gespräch deutlich kürzen müssen. Sie hasste Kürzungen. Am liebsten gab sie die Geschichte so wieder, wie sie ihr erzählt wurde. In diesem speziellen Fall allerdings würde die eine oder andere Auslassung dem Text sicher nicht schaden.
Nachdem sie sich den Mitschnitt mehrfach angehört und bereits den größten Teil des Interviews in einen einigermaßen brauchbaren Text verwandelt hatte, riss der Signalton ihres E-Mail-Accounts sie aus ihrer Konzentration.
Wie gewöhnlich kribbelte es in ihren Fingern und sie wechselte das Fenster, um zu sehen, ob in der eingegangenen E-Mail nicht der nächste Auftrag oder eine spannende Neuigkeit, eben die nächste Geschichte auf sie wartete.
Die E-Mail stammte von Sam. Pollys Herz begann schneller zu schlagen, als sie den Absender erkannte. Gleichzeitig war sie verwundert. Sam konnte unmöglich so schnell alle Bilder gesichtet und die besten für sie ausgewählt haben. Noch bevor sie seine Nachricht las, klickte sie auf den Anhang, um sich die Fotos anzusehen. Als sich das erste Bild öffnete, stockte ihr Atem. Es war das perfekte Foto. Unwillkürlich schlug sie die Hände vor den Mund und bemühte sich ruhig zu atmen. Ihr Herz hatte vor Aufregung ein paar Takte zugelegt. Niemals zuvor hatte sie ein derart eindrucksvolles Portrait gesehen. Das Motiv war beinahe egal und gleichzeitig auch wieder nicht. Der Politiker hatte optisch nicht viel zu bieten. Sein Gesicht war weder schön noch hässlich, weder interessant noch einprägsam. Sams Bild jedoch spiegelte eine Person wieder, die Polly bei ihrem Interview nicht getroffen hatte. Das Licht fiel so gekonnt auf das Gesicht des Mannes, dass an den Augen kleine Fältchen sichtbar wurden, ohne jedoch unschmeichelhaft zu wirken. Um seinen Mund erschien trotz des aufgesetzten Lächelns der feine Zug eines echten Lächelns, der Polly eine Vorstellung davon gab, wie es sich anhörte, wenn der Mann aufrichtig lachte. Sie bekam eine Gänsehaut. Dieses Foto zeigte mehr, als der Politiker über sich verraten hatte, ja vielleicht sogar mehr, als er selbst von sich wusste. Sie konnte an den Schatten unter seinen Augen sehen, dass sein Leben eventuell doch nicht so leicht war, wie er es ihr mit seinem auswendig gelernten Lebenslauf hatte weismachen wollen. Dieses Bild sagte mehr, als ihr Text es tun würde. Mit zitternden Fingern klickte sie auf die beiden anderen Bilder, nur um festzustellen, dass sie ebenso gut waren. Polly schwante, dass Sam ihr nur drei Bilder geschickt hatte, weil sie diese Zahl genannt hatte, nicht aber weil er sich nicht hatte entscheiden können. Er musste wissen, dass alle drei genau richtig waren. Plötzlich war sie derart aufgeregt, sie konnte nicht länger auf ihrem Stuhl sitzen bleiben. Ihr Magen flatterte. Sie sprang auf und begann hektisch, sich einen Kaffee zu machen, nur um dann wieder zum Bildschirm zurückzukehren. Sam hatte von einem uninteressanten Politiker das interessanteste Foto geschossen, das sie je gesehen hatte. Ihre Gedanken kreisten. Warum hatte sie noch nie zuvor von Sam gehört? Ein Fotograf, der derart gute Arbeit leistete, müsste ihrem Ermessen nach weltberühmt sein. Wieso nahm er überhaupt solche Aufträge an, statt um die Welt zu reisen? Polly ärgerte sich, Sam nicht ihre Adresse verraten zu haben. Hätte er die Bilder persönlich vorbei gebracht, hätte sie ihm all diese Fragen stellen können. Ihm sagen können, wie großartig seine Arbeit war.
Polly griff zum Telefon und rief Thomas an. »Polly, was kann ich für dich tun?«, begrüßte dieser sie schon nach dem ersten Klingeln.
»Hallo Thomas«, erwiderte sie seine Begrüßung. »Ich benötige kurz deine Hilfe.«
»Was immer du willst. Ich muss dich allerdings warnen, ich bin hier ziemlich im Stress und habe leider nicht viel Zeit.«
»Kein Problem, ist keine große Sache. Ich bräuchte die Telefonnummer von Sam.«
»Sam? Ach, du meinst den Fotografen. Hat es mit ihm etwa nicht geklappt? Ich wusste es! Der Typ ist mir gleich so komisch vorgekommen.«
»Nein, nein, alles bestens. Ich muss lediglich noch die Auswahl des Fotos mit ihm besprechen.«
»Puh, da hast du mir aber einen Schrecken eingejagt.« Thomas klang erleichtert. »Ich dachte schon, ich hätte dir einen schlechten Fotografen geschickt. Der Typ hat mich angerufen, er hatte tolle Referenzen und ich dachte, warum nicht. Komisch war allerdings, er wollte nur unter der Bedingung für uns arbeiten,
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