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Augenblicklich ewig

Augenblicklich ewig

Titel: Augenblicklich ewig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Neuberger
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konntet ihr nicht ausgehen.«
    Ein trauriger Ausdruck legte sich auf Pollys Züge. »Wir, Sam. Das waren wir. Nicht ich und irgendein anderer Mann.«
    Sam zuckte zusammen, er hatte sie nicht verletzen wollen.
    »Ich erinnere mich aber nicht daran, Polly, für mich ist es nur eine Geschichte.« Er nahm ihre Hand.
    »Es ist auch deine Geschichte. Irgendwann wirst du sie mir vielleicht erzählen müssen, weil du derjenige bist, der sich an uns erinnert.«
    Dieser Gedanke war Sam bisher überhaupt nicht in den Sinn gekommen. War das möglich? Würde er eines Tages versuchen müssen, Polly zu überzeugen, dass sie eine gemeinsame Vergangenheit hatten? Er war nicht imstande, so weit zu denken, deshalb sah er wieder auf ihre Hände und hoffte, Polly würde fortfahren.
    »Wir hatten Glück, wurden nicht krank und fanden eine bessere Unterkunft. Schließlich lerntest du den Chefredakteur der New Yorker Staats-Zeitung kennen. Er stellte dich als Reporter ein und mich gleich mit, als Hilfskraft. Ich vermute, du hast ihn auf Knien angefleht, mich auch zu nehmen. Die Zeitung war deutsch und wir wieder in unserem Element. Du solltest dir Bilder des Gebäudes anschauen, es war eindrucksvoll für ein Land, das gerade erst geboren worden war, und für eine Stadt, die sich noch im Aufbau befand.« Sie blickte versonnen auf ihre Hände. »Jeden Tag kamen unzählige Menschen mit Schiffen an, um wie wir ihr Glück zu versuchen. Für uns lief es gut, wir konnten uns eine schönere Wohnung leisten. Wir wollten zwar Kinder, aber es war uns nicht vergönnt. Die Arbeit war unsere Aufgabe und wir waren zufrieden, wohl auch weil wir zusammen arbeiteten und weil wir uns liebten. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir je wieder unglücklich oder unzufrieden waren. Es war ein schönes Leben.«
    »Wie sind wir gestorben?«
    Polly schien einen Moment zu grübeln. »Ich weiß es nicht genau. Meine letzte Erinnerung ist die Freiheitsstatue. Sie wurde kurz vor unserem Geburtstag am 28. Oktober 1886 eingeweiht. Du warst eingeladen, um darüber zu berichten. Frauen waren damals bei solchen Anlässen nicht erlaubt. Ich ging zum Ufer, um mir das Spektakel anzusehen. Danach erinnere ich mich nur noch an stechende Schmerzen, mehr nicht.«
    Sam dachte an seinen Traum. Er war allein gewesen, als er die Freiheitsstatue gesehen hatte, ohne Polly an seiner Seite. Vielleicht hatte sie in diesem Augenblick bereits mit dem Tod gerungen. Ein Schauer jagte ihm über den Rücken und er drückte ihre Hand unwillkürlich fester.
    »Keine Sorge, es macht nichts, dass ich allein war«, sagte sie sanft, als hätte sie seine Gedanken erraten. »So ist es eben. Nun haben wir uns gefunden und alles ist wieder in Ordnung.«
    Was auch immer das zu bedeuten hat, ergänzte Sam in Gedanken. Erst jetzt bemerkte er, dass es bereits dämmerte. Er erschrak. Weder sein Onkel noch die Angestellten durften Polly aus seinem Zimmer schleichen sehen. Das würde ihren Ruf ruinieren und sein Ansehen ebenfalls. Er musste sie hinausschmuggeln, bevor das Haus erwachte. Allerdings fühlte er sich bei dem Gedanken daran, von ihr getrennt zu sein, nicht wohl. Alles in ihm schien sich dagegen zu sträuben, auch nur eine Minute ohne sie zu verbringen. Dennoch wollte er nichts riskieren.
    »Polly, du musst gehen.«
    Sie hatte gedankenverloren mit seinen Fingern gespielt, sah nun aber überrascht auf. »Du willst, dass ich gehe?« Ihre Stimme klang traurig und verwundert.
    Sam stand auf, zog Polly an der Hand mit auf die Füße und sofort in seine Arme. Wieder fühlte sich ihr zarter Körper an seinem umwerfend an. Noch ehe er sich versah, drückte er seine Lippen auf ihre und war von der Anziehung zwischen ihnen nicht weniger überwältigt als bei ihrem ersten Kuss. Seine Vernunft siegte schließlich und er murmelte an ihrem Mund: »Das Haus erwacht jeden Moment und es wäre sicher nicht in deinem Sinne, wenn man dich hier antrifft, oder?«
    Sie lehnte seufzend den Kopf gegen sein Kinn. »Nein, und in deinem auch nicht. Ich verstehe diese gesellschaftlichen Regeln einfach nicht. Warum kann ich nicht tun, was ich möchte? Was geht es die anderen an?« Sie seufzte wieder und wollte sich von ihm losmachen.
    Sam musste grinsen. Sie dachte wie er. Auch ihm waren all die Regeln, die vermeintlich Anstand und Moral schützten, ein Rätsel. Denn am Ende taten die meisten, was sie wollten, sorgten jedoch dafür, dabei von niemandem erwischt zu werden. Er drückte Polly schnell einen letzten Kuss auf den

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